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1. Was dieses Buch bietet

Dieses Handbuch, Band IV der deutschsprachigen Edition des Europarats zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung (Gollob/Krapf/Weidinger 2010 ff.)1, beschreibt die Schritte zur praktischen Gestaltung von neun Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe II. Der Titel des Buches – An der Demokratie teilhaben – und das Titelbild thematisieren die Rolle der Lernenden als junge Bürgerinnen und Bürger. Die neun Einheiten beschreiben unterschiedliche Inhalte, Wege und Ansätze, um die Lernenden zur politischen und gesellschaftlichen Teilhabe zu ermutigen und zu befähigen. Im Fokus der Beschreibungen liegt die Demokratie- und Menschenrechtsbildung als Unterrichtsprinzip (s.u., Abschnitt 3 und 4).

Die Nutzerinnen und Nutzer des vorliegenden Bandes können einzelne Einheiten auswählen oder mehrere Einheiten in vielfältiger Weise miteinander kombinieren. Die neun Einheiten insgesamt bilden ein Programm zum Training von Kompetenzen zur demokratischen Teilhabe. Sie thematisieren jeweils eines der Basiskonzepte der Demokratie- und Menschenrechtsbildung: Identität, Verantwortung, Pluralismus und Vielfalt, Konflikt, Regeln und Recht, Macht und Entscheidung, Gleichberechtigung, Recht und Freiheit sowie Medien und Öffentlichkeit. Diese Basiskonzepte liegen auch den Bänden II und III für die Primar- bzw. Sekundarstufe I zugrunde, so dass ein stufenübergreifendes Spiralcurriculum möglich ist. Die Auswahl der Basiskonzepte orientiert sich am Political-Literacy-Konzept, das seit 2002 dem Schulfach „Education for Citizenship“ in Großbritannien zugrunde liegt (vgl. Juchler 2010: 193 ff.).

Der Zürcher Künstler Peti Wiskemann hat ein Puzzle zu den Basiskonzepten in dieser Handbuchreihe entworfen. Das Puzzle zeigt die Konzepte in ihrer Vernetzung, und die Bilder können als Impuls dienen, um sich mit den Konzepten auseinander zu setzen.

Die Einheiten sind knapp gehalten, um es den Nutzerinnen und Nutzern zu erleichtern, sie in ihre Unterrichtsplanung zu integrieren: Sie umfassen vier, in einem Falle fünf Unterrichtssequenzen, deren Zeitumfang je rund 45 Minuten beträgt. Jede Einheit enthält ein handlungsorientiertes Lernangebot, z.B. ein Kurzprojekt oder ein Entscheidungsspiel als Kernaufgabe, einschließlich der erforderlichen Materialien. In diesem Band wie auch in den Parallelbänden beschreiben wir eine Abfolge sinnvoller Schritte zur Durchführung der einzelnen Sequenzen – ohne der Illusion Vorschub leisten zu wollen, dass Lernprozesse und handlungsorientierter Unterricht steuerbar seien. Wir sind jedoch überzeugt, dass insbesondere Lehrpersonen in der Ausbildungsphase bzw. Berufsanfänger auf Modelle und Beispiele angewiesen sind, die sie kopieren und abwandeln können, um ihre professionellen Kompetenzen zu entwickeln. Erfahrenere Nutzerinnen werden mit den angebotenen Ideen und Materialien selektiver und freier umgehen.

2. Zur Entwicklung der Handbücher für Demokratie- und Menschenrechtsbildung

Für den Ansatz der Praxisdemonstration haben wir uns angesichts der positiven Erfahrungen entschieden, die wir damit in den Lehrerfortbildungsprogrammen des Europarats gesammelt haben. Die erste Ausgabe des vorliegenden Bandes für Lehrpersonen entwickelten wir in Bosnien-Herzegovina, als dort 2002 die Wehrertüchtigung an Schulen durch ein neues Fach – Demokratie und Menschenrechte – abgelöst wurde. Wir erkannten, dass die isolierte Beschreibung einzelner handlungsorientierter Mikro- oder Makromethoden (z.B. Debatte, Rollenspiel, Projekt) Einsteiger überforderten, wenn ihnen nicht gezeigt wurde, wie sie in den Unterrichtsprozess integriert werden könnten.

Der Europarat organisierte 1996 – 2007 Fortbildungen für Lehrpersonen in den beiden Entitäten Bosnien-Herzegovinas, um den Demokratisierungsprozess in der Zeit nach dem Bürgerkrieg zu unterstützen. Rolf Gollob und ich, die Mitherausgeber bzw. der Autor dieses Bandes, gehörten zum internationalen Team von Lehrerbildnern und -bildnerinnen, die an diesem Projekt von Anfang an mitwirkten.

In Zusammenarbeit mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa sammelten wir Materialien, Ideen und Erfahrungen, aus denen wir die sechsbändige Reihe von Lehrerhandbüchern zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung entwickelten. Sie lagen zunächst in englischer Sprache, später auch in zahlreichen Übersetzungen vor2 und wurden vom Europarat publiziert. Der vorliegende Band ist eine überarbeitete Neuausgabe, die auf der ursprünglichen englischsprachigen Ausgabe basiert.

3. Die drei Praxisfelder der Demokratie- und Menschenrechtsbildung (EDC/HRE)

Die Schule ist meist die erste große staatliche Institution, der Kinder und Jugendliche in ihrem Leben begegnen. Die Institution Schule hat sich im Auftrag der Gesellschaft auf die Organisation von rechtlich normierten Bildungsgängen spezialisiert. Aus der Perspektive aller Beteiligten ist die Schule zugleich ein Ort realer Lebenserfahrung; für manche Schülerinnen und Schüler mag diese informelle Perspektive der zwischenmenschlichen Beziehungen sogar bedeutsamer sein als das Lehrangebot. Schule dient nicht nur den curricular vorgegebenen Lerninhalten und Bildungszielen, sondern ist zugleich eine Sozialisationsinstanz, ein Ort sozialen und politischen Lernens.

Für die Demokratie- und Menschenrechtsbildung ist die erweiterte Perspektive auf Inhalte und Erfahrungszusammenhänge schulischer Lernprozesse von grundlegender Bedeutung. Es lassen sich drei Praxisfelder der Demokratie- und Menschenrechtsbildung unterscheiden, die sich in der Realität der Unterrichts- und Schulpraxis gegenseitig bedingen3. Demokratie- und Menschenrechtsbildung ist zugleich

  • Inhalt des Unterrichts: Schülerinnen und Schüler erwerben Kenntnisse und Einsichten über die ihnen zustehenden Menschen- und Bürgerrechte in ihrem demokratisch verfassten Gemeinwesen – Lehren und Lernen über Demokratie und Menschenrechte;
  • ein Unterrichts- bzw. Schulprinzip: die pädagogische Beziehung zwischen Lehrpersonen und Lernenden sowie die Interaktion unter allen am Schulleben Beteiligten schafft eine zweite Dimension sozialen Lernens durch Alltagserfahrung und Praxis, die sich an Menschenrechten und demokratischen Prinzipien orientiert – Lehren und Lernen durch Demokratie und Menschenrechte;
  • ein Praxisfeld demokratischer Teilhabe: junge Menschen trainieren Kompetenzen, die sie zur Teilhabe in der Gesellschaft sowie in öffentlichen Auseinandersetzungen und politischen Entscheidungsprozessen befähigen, indem sie ihre Rechte im Unterricht und in der Schule wahrnehmen – Lehren und Lernen für Demokratie und Menschenrechte.

Auf einen knappen Nenner gebracht umfasst Demokratie- und Menschenrechtsbildung Lernen und Lehren über, durch und für Demokratie und Menschenrechte. Konkret: Junge Menschen sollen ihre Teilhaberechte, die als Menschen- bzw. Grundrechte garantiert sind, kennen und ihre Bedeutung für Streitkultur, Entscheidungsfindung und Herrschaftskontrolle in der Demokratie verstehen. Sie sollen diese Rechte, soweit dies möglich ist, im Unterricht und im Schulleben wahrnehmen bzw. sich gegenseitig zubilligen und sie als Merkmal der Schulkultur erfahren. Sie trainieren z.B. ihre Kompetenzen der Informationsbeschaffung und -verarbeitung, des Argumentierens und Streitens, der Lösung von Dilemmata, Problemen und Konflikten, da sie zur demokratischen Teilhabe auf diese Kompetenzen angewiesen sind. Sie übernehmen die Grundwerte, auf die eine demokratisch verfasste Gesellschaft angewiesen ist, z.B. Anerkennung verfassungsrechtlicher und gesetzlicher Verfahrensregeln (u.a. Mehrheitsprinzip, Minderheitenschutz), gegenseitige persönliche Anerkennung, Solidarität.

Die Unterscheidung dieser drei Praxisfelder bzw. Dimensionen hat eine lange Tradition, nicht nur in der allgemeinen Pädagogik (z.B. „Kopf, Herz und Hand“), sondern auch und gerade in der politischen Bildung (vgl. Henkenborg 2014). Sie entsprechen den drei Lernzieldimensionen des kognitiven, affektiven und instrumentellen Lernens – Bildung umfasst den Erwerb von Kenntnissen, Werten und Einstellungen sowie praktischen Fähigkeiten; auch das britische political literacy-Konzept orientiert sich an diesen drei Praxisfeldern (Juchler 2010: 195).

Die drei Prinzipien des Beutelsbacher Konsens4 in der politischen Bildung lassen sich ebenso den drei Praxisfeldern der Demokratie- und Menschenrechtsbildung zuordnen: Das Kontroversitätsgebot fordert, dass die Lernenden in den Lerngegenständen des Unterrichtsfachs dem stets präsenten Streit in Wissenschaft und Politik begegnen. Das Überwältigungsverbot fordert eine Lehrer-Schüler-Beziehung, welche die Lernenden in der Wahrnehmung ihrer Freiheitsrechte respektiert. Das Prinzip der Orientierung an Schülerinteressen trägt der Teilhabe der Lernenden Rechnung.

Über diese drei Praxisfelder besteht nach unserer Wahrnehmung auch innerhalb West- und Nordeuropas Konsens. Wie oben bereits erwähnt, beauftragte der Europarat im Sommer 1996 ein international zusammengesetztes Team von Lehreraus- und Fortbildnern, das in Bosnien-Herzego-wina über mehrere Jahre Sommerseminare für Lehrpersonen in Demokratie- und Menschenrechtsbildung durchführte und zu Beginn auch mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA zusammenarbeitete. Die Beteiligten vertraten Lehr- und Lerntraditionen aus zahlreichen Ländern Europas sowie den USA, doch bei allen Unterschieden zeigte sich ein Konsens über die Bedeutsamkeit von EDC/HRE als Unterrichts- und Schulprinzip, der sich auf die Formel bringen lässt: „Die Methode ist die halbe Botschaft.“ Die Befähigung junger Menschen zur Teilhabe erfordert erheblich mehr als kognitiv ausgerichtetes Lernen und frontale Instruktion – in diesem Sinne erfuhren und erfahren wir Demokratie- und Menschenrechtsbildung als ein europäisches Projekt.

4. Zur Konzeption dieses Handbuchs

Das Praxisfeld „Lehren und Lernen für Demokratie- und Menschenrechte“

Der Titel dieses Bandes thematisiert die „Teilhabe“ an politischen Entscheidungsprozessen und öffentlichen Auseinandersetzungen (politics). Die Lernenden nehmen den institutionellen Handlungsrahmen „in der Demokratie“ (polity) in den Blick, den sie verstehen müssen, um ihre Freiheitsrechte wahrnehmen und ihre Interessen und Wertvorstellung zur Geltung bringen zu können (policy)5. Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung und der globalen Vernetzung der Märkte – um nur zwei Aspekte zu nennen – produzieren eine Komplexität und Dynamik, die nicht nur professionell agierende Akteure an ihre Grenzen bringen, sondern erst recht „den geistigen Horizont des Durchschnittsbürgers (zu) übersteigen“ drohen (Sartori 1992: 23).

Inwieweit aus der Tendenz zur Überforderung der Laien-Bürger ein Legitimationsproblem einer Demokratie wird, hängt vom Begriff der Teilhabe ab (vgl. Münkler/Krause 2002). Wir vertreten in unseren Lehrerhandreichungen einen breiten Begriff der Teilhabe, der sowohl auf zivilgesellschaftliches Engagement als auch auf Partizipation in institutionalisierten Entscheidungsprozessen zielt. Die Fähigkeit zur Teilhabe an der Demokratie wird nach unserer Überzeugung mehr denn je zu einer Frage der Bildung.

Demokratie- und Menschenrechtsbildung fokussiert somit auf das Training von Analyse-, Urteils- und Handlungskompetenzen, mit denen sich der Begriff demokratischer Teilhabe differenzieren und operationalisieren lässt. Die Einheiten dieses Bandes sind daher handlungs- und problemorientiert: sie enthalten Kurzprojekte bzw. Kernaufgaben, die das Training dieser Kompetenzen ermöglichen:

  • Die Lernenden handeln unter Entscheidungszwang, teilweise verschärft durch Bedingungen unvollständiger Information (Handlungskompetenz; Einheiten 1, 2, 3, 4, 5, 7, 9);
  • sie versuchen, unter Bedingungen unvollständiger Information die Folgen ihrer Entscheidun-gen abzuwägen (Urteilskompetenz; Einheiten 1, 2, 4);
  • sie trainieren die Methode der Fallanalyse, um sich in komplexe Entscheidungsmaterien einzuarbeiten (Analyse- und Urteilskompetenz; Einheiten 3, 8);
  • sie betreiben Agenda-Setting und mischen sich in öffentliche Auseinandersetzungen ein (Einheiten 6, 9);
  • sie suchen nach Lösungen für komplexe Probleme (Einheiten 4, 5, 7);
  • sie verhandeln, um einen Konflikt zu lösen (Einheit 4) und trainieren den Streit in öffentlicher Rede (Einheit 8).

Die hier vorgestellten Modelle für Demokratie- und Menschenrechtsbildung orientieren sich an einem „gemäßigt konstruktivistischen“ Lernbegriff6. Bürger als Laien haben keine andere Wahl, als sich in die komplexen Handlungszusammenhänge, mit denen sie es zu tun haben, soweit einzuarbeiten, dass sie einen Sinn für sich konstruieren können und handlungsfähig werden. Es geht nicht um Wahrheit, sondern – pragmatisch – um Viabilität.

Das Praxisfeld „Lehren und Lernen über Demokratie- und Menschenrechte“

Die Inhaltsdimension der Einheiten wird zunächst durch die Basiskonzepte bestimmt. Diese müssen freilich operationalisiert, d.h. didaktisch auf exemplarisch bedeutsame Problemstellungen fokussiert werden. Dabei ergeben sich in den neun Einheiten einige wenige thematische Schwerpunkte, die für das „Lernen über Demokratie und Menschenrechte“ von besonderer Bedeutung sind und zugleich die Basiskonzepte vernetzen:

  • Entscheidung in Institutionen (polity): Agieren in institutionellen Handlungsrahmen (Einheit 8); die Funktion von Institutionen reflektieren (Einheiten 5, 7); ein Ordnungskonsens (7, 8) unter den Bürgern zur Legitimation von Institutionen (polity; Einheiten 4, 7) als Voraussetzung, um Dissens in der Sache austragen zu können.
  • Entscheidungszwang (policy) als Merkmal des Politischen (1, 2, 4, 5, 6, 7); die Abwägung von Folgen einer Entscheidung für sich (Einheit 1) bzw. für andere (Einheit 2) unter Bedingungen Problem unvollständiger Information (Einheiten 1, 2, 4);
  • Dilemmata und Zielkonflikte (policy) analysieren (Einheiten 1, 2, 4/5, 7);
  • Menschenrechte – gesellschaftliche bzw. Verfassungsrealität (policy) (Einheiten 1, 2, 3, 4)
  • Möglichkeiten erkunden, sich in schulische bzw. öffentliche Diskussionen und Entscheidungsprozesse einzumischen (politics; Einheit 9 bzw. 6); Bedeutung des Agenda-Settings durch Akteure (Einheit 6); die Hypothese des Agenda-settings durch Massenmedien und Nachrichtenproduzenten (Einheit 9).
  • Streit als Medium der Lösung von Problemen und Konflikten in einer Demokratie (Einheiten 3, 6, 7, 8), dem das Kontroversitätsgebot in Bildungsprozessen Rechnung trägt (policy, politics); Frieden fördern durch win-win-Lösungen (Einheiten 4, 7).

Die Einheiten orientieren sich insofern an einem konstruktivistischen Lernbegriff, als die Schülerinnen und Schüler sich Kenntnisse und Einsichten selbst erarbeiten. In Einheit 4 beispielsweise konfrontiert ein Planspiel die Lernenden mit einem Konflikt, dessen Lösung offen ist. In Einheit 1 befassen sich die Lernenden mit der Freiheit und den Risiken ihrer „Bastelbiographie“ (vgl. Beck 1986: 205 ff.). In Einheit 5 und 7 stoßen sie auf Regelungslücken und versuchen Institutionen zu entwerfen, die diese Lücken füllen können; auf diese Weise lernen sie die Funktion von politischen Institutionen in der Gesellschaft zu verstehen (genetisches Prinzip).

Alle Einheiten gehen exemplarisch vor und verzichten dabei so weit wie möglich auf die Dokumentation aktueller Beispiele durch Quellen, Bilder und Daten. Ich habe solche Beispiele nur in jenen Fällen verwendet, bei denen die Anschaulichkeit und Verständlichkeit der Darstellung nicht anders zu erreichen war. Die Materialen können und sollten aktualisiert bzw. ausgetauscht werden (siehe Einheiten 2, 3, 8). Modelle und modellierte Fallgeschichten (Einheiten 4, 5, 7) und Instrumente (Einhei¬ten 1, 6, 9) hingegen sind relativ „zeitlos“. In den handlungsorientierten Lernaufgaben aller Einheiten produzieren die Lernenden das Lernmaterial zu einem n Teil selbst.

Das Praxisfeld „Lehren und Lernen durch Demokratie- und Menschenrechte“

Demokratie- und Menschenrechtsbildung wird für die Lernenden erst dadurch glaubwürdig und relevant, dass der Anspruch von Demokratie und Menschenrechten auch für sie gilt und im Schulleben erfahrbar wird. Dies konkretisiert sich an Fragen wie den folgenden: Können sie von ihren Freiheitsrechten Gebrauch machen? Wird ihre Menschenwürde respektiert?

In den neun Einheiten dieses Bandes geht es um Prinzipien der Demokratie und Menschenrechte als Unterrichts-, nicht als Schulprinzip. In den Verlaufsbeschreibungen der neun Einheiten habe ich versucht, die Zusammenhänge zwischen Inhaltsdimension und Unterrichtsprinzip herauszuarbeiten, da gerade hier die Hauptschwierigkeiten für weniger erfahrene Lehrpersonen liegen. In der Lehrer-Schüler-Beziehung agieren die Beteiligten spontan und die Lehrperson muss zu einem erheblichen Teil durch Improvisation auf Schülerbeiträge und Impulse antworten. Wir versuchen den Lehrpersonen zu helfen, ihr Handeln in der Improvisation zu reflektieren – nicht nur vor, während und nach den Unterrichtssequenzen (vgl. Meyer 2007: 223 f.), sondern auch gemeinsam mit den Lernenden.

Demokratie und Menschenrechte als Unterrichtsprinzip lassen sich in den Handlungsmustern, Methoden und Sozialformen7 des Unterrichts operationalisieren. In den Verlaufsbeschreibungen der neun Einheiten kehren folgende Muster wieder:

Die Lernenden

  • beteiligen sich durch ihre Feedbacks und in Planungsgesprächen an der Gestaltung des Unterrichts;
  • werden als Experten, nicht als Unwissende angesprochen. Sie erhalten die Chance, ihre Vorkenntnisse und Stärken zu nutzen und auf ihre Lebenserfahrung Bezug zu nehmen (Konstruktivismus);
  • sind frei in ihrem Urteil. Die Lehrperson beansprucht keine Deutungshoheit, wohl aber insistiert sie darauf, dass die Lernenden ihren Standpunkt begründen (Überwältigungsverbot).

Die Lehrperson

  • sollte bei der Aufgabeninstruktion die Funktion einer Lernaufgabe verdeutlichen8;
  • wählt Einstiege für Einheiten bzw. einzelne Sequenzen, die alle Schülerinnen und Schüler rasch aktivieren und integrieren;
  • ermutigt die Lernenden, sich an Lehrgesprächen und Diskussionen zu beteiligen und versucht bei Bedarf, ihren Beiträgen eine Struktur zu geben (Konstruktion und Instruk¬tion);
  • inszeniert Debatten und Diskussionen, um die Lernenden zu Meinungs- und Urteilsbildung herauszufordern (Streitkultur);
  • schafft handlungsorientierte Lernangebote, die eigenverantwortliches Lernen ermöglichen bzw. verlangen und die auch Lernchancen anhand der Erfahrung des Scheiterns einschließen. Diese lassen sich nur nutzen, wenn die Lernenden ihre Erfahrungen reflektieren können und die Erfahrung des Scheiterns das Selbstwertgefühl der Lernenden nicht verletzt („fehlertolerante Lernkultur“).

5. Kompetenz- und Handlungsorientierung, Konstruktivismus

Kompetenzbegriff

In der vorliegenden EDC/HRE-Edition orientieren wir uns am GPJE-Kompetenzmodell, das drei Kompetenzbereiche unterscheidet: politische Urteils- bzw. Handlungsfähigkeit sowie methodische Fähigkeiten (Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung 2004: 13). Wir erweitern dieses Modell um die Dimension der Werte und Einstellungen.

Politisches Urteilsvermögen ist die Voraussetzung reflektierten Handelns. Es umfasst Sach- und Werturteile, die wiederum Wissen und Verstehen voraussetzen. Politische Handlungskompetenzen umfassen z.B. die Fähigkeit, Urteile und Interessen öffentlich vortragen und verteidigen, Aushandlungsprozesse führen und Kompromisse schließen zu können. Zu den methodischen Fähigkeiten gehört z.B. die selbstständige Beschaffung, Auswahl und Verarbeitung von Informationen, eigenständiges Lernen, Argumentation, öffentliche Rede und Debatte.

Problem- und Handlungsorientierung als „task based learning

Die Lernenden entwickeln ihre Kompetenzen durch Training. Das bedeutet, dass sie handlungsorientierte Lernangebote und anwendungsorientierte Aufgaben benötigen. Solche Angebote verlangen, dass die Lernenden von ihren Kompetenzen Gebrauch machen, und sie ermöglichen es der Lehrperson, den Entwicklungsstand der Lernenden zu diagnostizieren.

Aus diesem Grunde enthält jede Einheit in den drei Bänden 2 – 4 dieser Handbuchreihe ein Kurzprojekt bzw. eine Lernaufgabe, der wir einen erweiterten Problembegriff zu Grunde legen. Die Lernenden bearbeiten nicht nur ein inhaltlich bestimmtes politisches Problem (vgl. dazu z.B. Gagel 2000: 93 ff.) zur Schulung ihrer Urteilsfähigkeit (wie in der politischen Bildung). Sie trainieren auch ihre Methoden- und Handlungskompetenzen, indem sie sich mit den technischorganisatorischen Anforderungen der Aufgabe auseinandersetzen. Die englische Übersetzung handlungsorientierten Lernens – task based learning – bringt diesen Ansatz des Kompetenztrainings präzise zum Ausdruck.

Konstruktivistischer Lernbegriff

Wir orientieren uns in der vorliegenden Handbuchreihe an einem konstruktivistischen Lernbegriff. Schülerinnen und Schüler lernen, indem sie neue Informationen und Sinneseindrücke mit ihren Vorkenntnissen und Lebenserfahrungen (Präkonzepten) zu einem sinnvollen Ganzen zu verknüpfen versuchen. Das Lernergebnis ist ein individuelles Konstrukt, dessen Struktur durch Konzepte, also sprachlich, vermittelt ist. „Die Welt entsteht im Kopf“, sie ist also nicht unmittelbar wahrnehmbar. Wie Menschen die Realität wahrnehmen und verstehen, ist vielmehr durch kognitive Strukturen determiniert, die sich nicht hintergehen lassen. Raum und Zeit beispielsweise sind Strukturmerkmale unserer Wahrnehmung, aber keine Eigenschaften der Dinge an sich9. Lernen als Konstruktion von Sinn produziert keine Erkenntnisse, die als „wahr“ gelten können, sondern misst sie am Maßstab der Viabilität, d.h. das gewonnene Wissen bleibt „immer vorläufig, begrenzt und muss sich im jeweiligen Kontext bewähren“ (Sander 2014: 80). Es geht nicht um die Wahrheit des Wissens, sondern um seine Brauchbarkeit (Viabilität), etwa in der Lösung von Problemen.

Aus konstruktivistischer Perspektive sind Lernprozesse nicht steuerbar, doch lassen sie sich anregen und unterstützen. Damit gewinnt die Rolle der Lehrperson an Bedeutung und differenziert sich aus: Vermittlungsdidaktik geht auf in einem Wechsel von Vermittlungs- und Ermöglichungsdidaktik (Kremb 2010: 24 f.). Handlungsorientierte Phasen selbstständigen Lernens lösen sich ab mit Phasen der Reflexion und Dekonstruktion: Die Lernenden sind darauf angewiesen, ihre Lernergebnisse zu kommunizieren und der Kritik auszusetzen, die zur Korrektur (Dekonstruktion) unerlässlich ist.

Die Instruktion, sei es durch die Lehrperson oder andere Akteure und Medien, liefert Impulse, die den Lernenden die Konstruktion neuer Zusammenhänge und Erkenntnisse ermöglicht (Ermöglichungsdidaktik; Arnold 2007: 33 ff.).

In den Verlaufsbeschreibungen der Sequenzen in diesem Band spielt das Wechselspiel von Instruktion und Konstruktion eine zentrale Rolle, ebenso die Lernstandsdiagnose durch die Lehrperson: Die Lehrperson beobachtet die Lernenden in Phasen eigenständigen Arbeitens und analysiert ihr Kooperationsverhalten und ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen. Sie evaluiert ihre Beiträge in schüleraktivierenden Einstiegen, in Klassengesprächen, Debatten oder Diskussionen, Feedbacks oder Planungsgesprächen und sie entscheidet, ob das Lernangebot für die Lernenden angepasst oder differenziert werden muss. Aus konstruktivistischer Sicht sind Lernprozesse nicht planbar und lässt sich auch Unterricht nur bedingt planen, denn: „Der tatsächliche Weg ergibt sich erst im Gehen.“ (Sloane 1999: 52)

Im vorliegenden Band werden auch politische Entscheidungsprozesse aus konstruktivistischer Perspektive interpretiert:

  • Problemlösung ist die permanente Aufgabe der Politik: Politische Entscheidungsprozesse werden notwendig, um dringende, nicht mehr abweisbare Probleme zu lösen (vgl. z. B. Einheit 6). Gagel (2000: 93) verweist auf Popper, der Probleme „als Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen“ beschrieb. Der Lösungsweg ist also unbekannt, und ihn zu finden, lässt sich in demokratisch verfassten Gesellschaften als Konstruktionsleistung eines öffentlichen Lernprozesses interpretieren.
  • Die Genese von Institutionen lässt sich verstehen als Versuch, Konfliktpotenziale in der Gesellschaft dauerhaft zu befrieden (vgl. Einheit 4 und 5 bzw. 7). Institutionen dienen der Gesellschaft und legitimieren sich durch ihren Nutzen10.
  • Das Problem der unvollständigen Information: Sowohl Individuen als auch politische Akteure stehen unter Entscheidungsdruck: Sie müssen Entscheidungen treffen, ohne über umfassende Informationen zu verfügen, um die Folgen abschätzen zu können (vgl. Einheiten 1, 2 bzw. 6.). Die Knappheit der Ressource Zeit verschärft das Problem verantwortlichen Handelns auf der Mikro- wie der Makroebene.

Die Konstruktion von Wissen, Verstehen und Deutung kann an der Komplexität der Materie scheitern. Durch Bildung kann das „denkende Subjekt“ seine analytische Kompetenz) stärken, ohne das strukturelle Problem den Handlungszwangs unter Bedingungen des Nichtwissens11 dadurch lösen zu können.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass geschlossene schulische Curricula nicht mehr zu halten sind. Schulische Bildung müsste sich an der Entwicklung von Kompetenzen orientieren, die zur Lösung von Problemen befähigen, d.h. zur Verschiebung der Grenze von Wissen und Nichtwissen beitragen können. Aus dieser Perspektive hängt die Zukunft der Demokratie vom Bildungserfolg ihrer Bürger ab, denn Demokratie setzt voraus, dass Bürger die Entscheidungsmaterie verstehen und mit ihrer Komplexitätszunahme Schritt halten können, um nicht Populisten und Scharfmachern zum Opfer zu fallen.

6. Die Edition zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung – ein europäisches Projekt

Seit den 1990er Jahren initiiert und unterstützt der Europarat die Weiterentwicklung und Implementierung von Demokratie- und Menschenrechtsbildung in seinen Mitgliedsstaaten. Bildungspolitiker und -ministerien, EDC-Koordinatoren, Bildungsexperten, Lehreraus- und -fortbildner sowie Lehrpersonen und ihre Schülerinnen und Schüler aus zahlreichen Mitgliedsstaaten des Europarats waren und sind in diesen Prozess einbezogen. EDC/HRE wurde zu einem europäischen Projekt mit gemeinsamen Zielen, und in Bezug auf seine teilhabe- bzw. handlungsorientierte Ausrichtung lässt sich auch von einem „europäischen Ansatz“ der Demokratie- und Menschenrechtsbildung sprechen. Diese Erfahrung ermutigte uns als Herausgeber und Autoren zur Produktion der sechsbändigen Reihe für Praktikerinnen und Praktiker, für die wir den Ertrag des EDC/HRE-Prozesses fruchtbar machen möchten.

Die Anregungen und Unterstützung, die ich bei der Arbeit am vorliegenden Band IV erhielt, spiegelt den europaweiten EDC/HRE-Prozess. Insbesondere möchte ich den folgenden Kolleginnen und Kollegen danken:

Manuela Droll und Karen O’Shea waren meine Koautorinnen bei der ersten Version dieses Bandes in Bosnien-Herzegowina. Emir Adzovic, damals der Koordinator des Europarats in Sarajevo, organisierte die Lehrerfortbildungsmaßnahmen und gab uns zahllose Einblicke in seine vom Bürgerkrieg zerrissene Gesellschaft. Gemeinsam mit Don Rowe, Ted Huddleston und Wim Taelman wählten Rolf Gollob und ich die Basiskonzepte aus, die diesen Band mit jenen für die Primarstufe und Sekundarstufe I verbinden. Don las einige unserer ersten Entwürfe, und Ted war einer unserer kritischsten, aber auch ideenreichsten Diskussionspartner.

Olöf Olafsdottir und Sarah Keating-Chetwynd waren unsere Kooperationspartnerinnen und die Koordinatorinnen dieses Projekts im Europarat. Mit Geduld und Entschlossenheit ermöglichten sie die Veröffentlichung der englischsprachigen Ausgabe dieses Bandes für den Einsatz in allen Mitgliedsländern des Europarats. Einen besonderen Dank möchte ich der damaligen EDC/HRE-Koordinatorin für die Bundesrepublik Deutschland, Dr. Reinhild Otte, aussprechen. Sie sorgte dafür, dass dem EDC/HRE-Projekt die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde, und sie initiierte die vorliegende deutsche Version des IV. Bandes der EDC/HRE-Edition. Dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg danke ich für die Förderung der deutschen Ausgabe des vorliegenden Bandes.

Peti Wiskeman hat jeden Band der Reihe mit einem Titelbild und Puzzle bereichert, das einen anschaulichen und anregenden Zugang zu den neun Basiskonzepten bietet. Meine Mitherausgeber Wiltrud Weidinger und Rolf Gollob unterstützten mich in zahllosen Gesprächen und Diskussionen. Christian Fallegger las die Entwürfe zur englischsprachigen Version, seine Ideen und sein Feedback schlagen sich an zahlreichen Stellen nieder. Basil Schader übernahm das Lektorat; als Anwalt der Nutzerinnen und Nutzer insistierte er darauf, das Buch lesbar und so weit wie möglich auch selbsterklärend auszugestalten; ihm danke für seine Geduld, die ich massiv strapaziert habe.

Mit Rolf Gollob arbeite ich seit nunmehr fast 25 Jahre zusammen. Er war und ist mein Freund, Diskussions- (und auch Streit-)Partner, Lehrer, Coach und Impulsgeber. Ohne die Lernprozesse, die ich ihm verdanke, wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, mich auf das Wagnis dieses Buches einzulassen.

All diesen Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiter/innen und Freunden danke ich für ihre Anregungen und Unterstützung. Die Verantwortung für alle Fehler und Schwächen, die kritische Nutzerinnen und Nutzer finden, liegt bei mir.

Peter Krapf
Zürich und Ulm,
Im November 2021

 

 

1. Engl. Education for Democratic Citizenship and Human Rights (EDC/HRE). Das Kürzel EDC ist auch im Deutschen gebräuchlich.
2. Gollob/Krapf (2007 ff., Hrsg.; seit 2010 mit Wiltrud Weidinger). Vgl. dazu www.living-democracy.com/de/ .
3. Vgl. Weinbrenner/Fritzsche (1998: 2), Henkenborg (2014) sowie die Erklärung der Vereinten Nationen über Men-schenrechtsbildung und -training (UN-MRBT). https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/menschenrechtsbildung (Abruf am 01.07.2021).
4. Grammes 1996: 144 ff. hat die drei Prinzipien des Beutelsbacher Konsens den „dynamischen Vermittlungsrelationen“ zwischen Schülergruppe, Lehrperson und der Sache zugeordnet. Diese entsprechen den drei Praxisfeldern der Demokratie- und Menschenrechtsbildung.
5. Zum dreidimensionalen Politikbegriff vgl. das Material für Lehrpersonen 4.6 in diesem Band.
6. Siehe dazu Abschnitt 5 in dieser Einleitung.
7. Zum Methodenbegriff vgl. Meyer 1987.
8. Vgl. Band I dieser Handbuchreihe, Einheit 1, Arbeitsdossier 6: Die Rolle der Lehrperson aus einer demokratischen Sichtweise überdenken.
9. Vgl. ausführlicher dazu z.B. Sander 2008: 151 ff., Sander 2014.
10. Vgl. dazu Massings Ansatz einer „aufgeklärten Institutionenkunde“ (2014a.
11. Zum Problem des Nichtwissens in der globalisierten Welt vgl. Beck 2007: 103 ff., 140.