Material für Lehrpersonen 4.6: Der dreidimensionale Politikbegriff

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Wer in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben will, braucht eine Vorstellung von Politik. Die politische bzw. Demokratie- und Menschenrechtsbildung hat daher die Aufgabe, den Lernenden die Erarbeitung eines brauchbaren Politikbegriffs zu ermöglichen.

Karl Rohe (1994:61) hat vorgeschlagen, die Komplexität der politischen Realität in einem dreidimensionalen Modell zu fassen: Seine Elemente sind der Inhalt des Politischen (policy), die Politik als Willensbildungs- und Entscheidungsprozess (politics) sowie der institutionelle Handlungsrahmen des Politischen (polity). Insbesondere in Deutschland ist dieses Dreidimensionenmodell sowohl in der politischen Wissenschaft wie in der Didaktik der politischen Bildung weit verbreitet, während die drei Begriffe des Politischen im angelsächsischen Sprachraum kaum vermittelbar sind.

Am Beispiel der Sequenz 3 lässt sich diese Modell erläutern.

Problem (bzw. policy) Verhandlungen und Entscheidungen (bzw. politics) Regeln und Institutionen (bzw. polity)

Es gab einen Interessenkonflikt zwischen Gewinnern und Verlierern – den reichen und den armen Fischern.

Die Zerstörung der Fischpopulation war nicht aufzuhalten.

Alle Fischer wurden arm durch den massiven Rückgang der Fangerträge.

Wer weniger Fische fing, um die Bestände zu schonen, war „der Dumme“.

Wir hatten nicht genug Infor-mation: Was vertragen die Fischbestände? Wie verhalten sich die anderen? Wir mussten raten.

Nachhaltiges Fischen lohnte sich nicht – weniger fischen bedeutete Armut, und mehr Ertrag für die anderen Fischer.

Die Verhandlungen waren sehr schwierig, weil einige Gruppen nicht kooperieren wollten.

Es gab keine Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen; jeder dachte nur an sich.

Wir konnten uns nicht darauf verlassen, dass die anderen Gruppen sich an die Vereinbarungen halten.

Niemand ließ sich in die Karten schauen. Wir wussten nicht was die anderen vorhatten.

Es gab keine Regeln für vernünftiges Fischen.

Es gab niemand, der Sanktionen verhängen konnte.

Das Fischerspiel modelliert einen Konflikt, der das Potenzial hat, die Gesellschaft der Fischer zugrunde zu richten, wenn er nicht gelöst wird – diese Dringlichkeit macht die politische Qualität des Konflikts aus. Der harte Kern des Konflikts besteht aus dem Nachhaltigkeits- und Kooperationsdilemma (soll ich den anderen vertrauen, dass sie Zusagen einhalten – oder mich lieber für den kurzfristigen Vorteil entscheiden?)24 Die Dilemmata werden zusätzlich verschärft durch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Die Fischerinnen und Fischer interagieren auf irgendeine Weise miteinander – das ist die Prozessdimension des Politischen. Der politische Prozess beginnt mit den Diskussionen in den Fischergruppen und er kann in stummer Konkurrenz bestehen, in der sich die Mannschaften gegenseitig mit den Ergebnissen ihrer Fangpolitik konfrontieren, oder aber in Verhandlungen.

Der Handlungsrahmen (polity) ist bei jeder Form von sozialer, ökonomischer oder politischer Interaktion gegeben – ohne Form gibt es keinen Inhalt (ausführlich dazu Einheit 5). Im Fischerspiel besteht er, abgesehen von den Spielregeln und den wenigen Vorgaben des Spielleiters, zunächst aus Erwartungen über das Verhalten der anderen. Daher bleiben alle Verhandlungsergebnisse und Verabredungen unverbindlich und resultieren im Kooperationsdilemma. Die Fischer-Gesellschaft ist zumeist überfordert mit der Bewältigung dieses komplexen Problembündels. Der Handlungsrahmen freilich ist veränderbar (politics), vor allen Dingen dann, wenn er wie im vorliegenden Fall selbst Teil des Problems wird (policy).

Eine Möglichkeit, die Problemlage im Fischerspiel zu überwinden, besteht darin, ein formalisierteres Institutionensystem zu schaffen, das Kontrollen, Sanktionen und verbindliche Entscheidungen ermöglicht. Aus dieser Perspektive lässt sich die Funktion und Genese von Verfassungen und Rechtsstaatlichkeit erschließen. Bei näherem Zusehen freilich zeigt sich, dass Institutionen nicht nur Probleme lösen, sondern auch neue erzeugen können. Elinor Ostrom (vgl. Handout 4.4) vertritt die These, dass Markt und Staat oft die schlechtere Lösung gegenüber Vertrags- bzw. Regimelösungen sind, um Gemeinschaftsgüter nachhaltig zu bewirtschaften. Staat, Markt oder Regime25 – das wären die drei Optionen der Institutionenentwicklung.

In der Sequenz 3 dieser Einheit richtet die Lehrperson die Aufmerksamkeit der Lernenden auf die policy-Dimension im Fischerspiel. Die Einheit 5 ermöglicht den integrierten Perspektivwechsel zur polity-Dimension. Die Lernenden gehen dort der Frage nach, wie Institutionen beschaffen sein sollten, um den Konflikt zwischen den Fischern zu entschärfen.

Das Fischerspiel und die drei Dimensionen des Politischen sind Modelle. Abschließend sei auf die Funktionen derartiger Konstrukte hingewiesen: In den Wissenschaften wie auch in der politischen oder ökonomischen Bildung sind Modelle weit verbreitet. Sie funktionieren wie Landkarten (Bofinger 2011:32), d.h. sie reduzieren die komplexe, unübersichtliche Realität im Kontext einer bestimmten Frage auf das Wesentliche, das Forscher wissen oder Lernende verstehen wollen bzw. sollen. Wer mit Modellen arbeitet, sollte sie nicht mit der Realität verwechseln und ihnen auch nicht zum Vorwurf machen, was sie nicht zeigen.

Literatur

Zur Einführung siehe Ackermann u.a. (2013: 27 ff.).
Zur wissenschaftlichen Begründung siehe Rohe (1994:61–67), v. Alemann (1996: 542–546).

24. Vgl. dazu Krell (2009: 239ff.).
25. Regimes spielen in der internationalen Politik (auf der supranationalen Ebene) eine Rolle. Da es keinen Weltstaat gibt, müssen souveräne Staaten Verträge schließen, die sog. Regime schaffen, z.B. im Bereich der Rüstungskontrolle, im internationalen Handel oder im Klima- und Umweltschutz. Vgl. dazu Krell (2009: 237–243). Ostrom schlägt vor, auch dort, wo es einen Staat gibt, auf ihn zu verzichten, wenn die Nutzer einer Allmende mit einem Vertrag auskommen.