Handout für Lehrpersonen 9.1: Strukturwandel der Öffentlichkeit: eine Herausforderung für die Demokratie
Living Democracy » Textbooks » An der Demokratie teilhaben » Teil 3 – Teilhabe an öffentlichen Auseinandersetzungen » EINHEIT 9: Medien und Öffentlichkeit » Handout für Lehrpersonen 9.1: Strukturwandel der Öffentlichkeit: eine Herausforderung für die Demokratie1. Neue Teilhabechancen für Alle
In historischer Perspektive haben drei Innovationen die Medien und die von ihren vermittelten Kommunikationsformen der Menschen revolutioniert: Die Entwicklung der Schrift, die Erfindung der Druckerpresse und in den letzten Jahrzehnten die digitale Kommunikation (vgl. dazu und zum Folgenden Habermas (2020a S. 25 ff.; 2020b, S. 102 ff.). Jede dieser Innovationen revolutionierte die Kommunikationsformen in der Gesellschaft. Die Erfindung der Druckerpresse mit beweglichen Lettern durch Gutenberg (1492) machte alle Mitglieder der Gesellschaft zu potenziellen Lesern. Ohne die Druckerpresse wären z.B. die Reformation, die Aufklärung, die modernen Wissenschaften und die klassischen Printmedien nicht möglich gewesen.
Die Erfindung der Druckerpresse löste nach der Einführung der Schrift den zweiten „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ aus. Zeitungen spielten eine Schlüsselrolle in der Entwicklung demokratischer Gesellschaften. Sie konstituierten im 18. Jh. eine Sphäre der Öffentlichkeit, die im Geist der Aufklärung politischen und literarischen Diskursen ein Forum bot. Im 20. Jahrhundert erreichten die klassischen Medien potenziell die gesamte Gesellschaft. Professionelle Redaktionen und Lektorate moderierten die Berichterstattung, das politische Agenda Setting und Meinungsbildung, und die klassischen Medien konstituierten auf diese Weise eine „inklusive“ (Habermas), d.h. die gesamte Gesellschaft einbeziehende politische Öffentlichkeit. Das Puzzleteil zum Basiskonzept „Medien und Öffentlichkeit“ bezieht sich auf diese „klassische“ Öffentlichkeit. Es zeigt junge Menschen mit Zeitung, Buch und Media-Player in der Rolle des Lese- und Hörerpublikums, und für die Lernenden heute dürfte der Unterschied zu ihrer digitalen Medienerfahrung augenfällig sein.
Die digitale, global vernetzte Kommunikation löste einen dritten „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ aus, der den „… Übertragungsmodus und damit die Verstetigung, die soziale Reichweite, das Tempo und die Dichte der kommunikativen Verständigung“ ein weiteres Mal in der Menschheitsgeschichte revolutionierte. Das 2007 vorgestellte iPhone scheint das Leitmedium zu sein, das alle Mitglieder des „Publikums“ der klassischen Medien in kürzester Zeit in potenzielle Autorinnen und Autoren verwandelt hat, die zu jeder Zeit Texte, Bilder und Videos produzieren und veröffentlichen konnten. Es entstand eine Vielfalt von Teilöffentlichkeiten (z.B. Netzwerke, Communities).
Die digitale Revolution der menschlichen Kommunikation eröffnete allen Nutzern und Nutzerinnen, die über ein netzfähiges Medium verfügten, mit der Wahrnehmung der Autorenrolle neue und erweitere Chancen der Teilhabe an politischen Willensbildungsprozessen. In globaler Perspektive bieten die digitalen Kommunikationsmedien emanzipatorisches Potenzial, da sie sich eher dem Zugriff der Zensur in diktatorischen und autokratischen Regimen entziehen können, z.B. im „arabischen Frühling“. Bürger und Bürgerinnen können als Laienjournalisten agieren und die Funktion der „vierten Gewalt“ (Herrschaftskontrolle) mit übernehmen. Die Bewegung „Black Lives Matter“ (2020) hätte ihre Kraft nicht entfalten können ohne die Videos von Augenzeugen, die die Polizeigewalt in den USA öffentlich machten.
„Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ Artikel 19 AEMR (vgl. Handout 9.4). Aus heutiger Sicht erscheint diese Formulierung aus dem Jahr 1948 erstaunlich modern und weitsichtig: Erst der „Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0“ ermöglicht es allen Nutzern und Nutzerinnen, ihre Meinung „ohne Rücksicht auf Grenzen“ also im globalen Maßstab zu äußern, und „Medien jeder Art“ zu nutzen.
2. Die digital vernetzte Öffentlichkeit: eine Herausforderung für die Demokratie
Der im Folgenden verwendete Begriff der Herausforderung umfasst Chancen und Probleme. Er trägt der Erfahrung des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses Rechnung, dass z.B. technische oder gesellschaftliche Neuerungen sich als ambivalent erweisen und von Menschen größere Anstrengungen und intensivere Lernprozesse erfordern, um ihre erweiterten Potenziale verantwortungsvoll nutzen zu können (vgl. Geißler 2014, S. 457). Die Erfindung des Verbrennermotors beispielsweise ermöglichte es, die Menschenrechte auf persönliche Freiheit und Freizügigkeit zur vollen Entfaltung zu bringen. Zu den Konsequenzen der Motorisierung gehören Tote und Verletzte im Straßenverkehr, sowie Feinstaub- und CO2-Emissionen.
Digitale Kommunikation ist in diesem Sinne eine neue gesellschaftliche und politische Herausforderung. Wie oben skizziert, schafft sie nicht nur neue Freiheitsräume und Teilhabechancen, sie erzeugt auch neue und verschärft bereits bekannte Probleme:
Demokratien leben von der politischen Öffentlichkeit, die durch Medien konstituiert und organisiert wird. Die zuvor von den klassischen Medien (Printmedien, Rundfunk und Fernsehen) konstituierte politische Öffentlichkeit existiert weiter, wird jedoch in ihrer Reichweite beschränkt und bedroht: „ (…) das Moment der Gemeinsamkeit, das für die demokratische Meinungs- und Willensbildung konstitutiv ist, [verlangt] (…) eine Antwort auf die spezielle Frage: Wie lässt sich in der virtuellen Welt des dezentrierten Netzes – also ohne die professionelle Autorität einer begrenzten Anzahl von Verlagen und Publikationsorganen mit geschulten, sowohl redigierenden wie auswählenden Lektoren und Journalisten – eine Öffentlichkeit mit Kommunikationskreisläufen aufrechterhalten, die die Bevölkerung inklusiv erfassen?“ (Habermas 2020a, S. 27. Hervorh. i. Or.)
Die neu entstandenen Teilöffentlichkeiten betreiben ihr eigenes Agendasetting. Sie produzieren auch Kommunikationsblasen, die einander und der „klassischen“ politischen Öffentlichkeit fremd, gleichgültig oder auch feindlich gegenüberstehen können. Bestehende Konfliktlinien in der Gesellschaft werden tendenziell verstärkt werden, neue können hinzukommen. Diese Entwicklung gefährdet den gesellschaftlichen Minimalkonsens der Gesellschaft, auf den eine Demokratie angewiesen ist: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Böckenförde 2006, S. 112) Dazu gehört die Anerkennung institutionalisierter Verfahren der Entscheidungsfindung (Ordnungskonsens) und der säkularen Fundamentalnorm der Menschenwürde (minimaler Wertekonsens).
Das „Komplexitätsproblem der Demokratie“ bezeichnet eine „frustrierende Diskrepanz“ zwischen den durchschnittlichen Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger und der zunehmend komplexeren Mehrebenensteuerung in modernen Demokratien. Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung der demokratischen Teilhaberechte die Vielfalt der öffentlich artikulierten Ideen, Meinungen und Interessen den Diskurs in der pluralistischen Gesellschaft bereichert, zugleich jedoch die Komplexität der Materie, die verhandelt wird, weiter steigert: Teilhabe wird zu einer Frage der – ungleich verteilten – Res-sourcen, vor allem Information und Bildung (vgl. Schmidt 2010, S. 500.; mehr dazu bei Abdelhamid (2017, S. 47 ff.). Die Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit verschärft dieses Komplexitätsproblem weiter.
Zugleich lässt sich der Rückzug in Filterblasen, der bei einem Teil der Nutzer und Nutzerinnen zu erkennen ist, als eine regressive Form der Reaktion auf das Komplexitätsproblem deuten. Die Kommunikation mit Gleichgesinnten erlaubt den Ausschluss kognitiver Dissonanzen, fördert jedoch die Bereitschaft, Falschinformationen, rassistische oder antisemitische Hassbotschaften sowie Verschwörungsnarrative zu glauben oder selbst zu verbreiten. Algorithmen der Kommunikationsplattformen und Suchmaschinen können diese Tendenz noch verstärken. Die Netzbeiträge solcher Nutzergruppen sind in der Öffentlichkeit nicht zu überhören, jedoch scheinen keine gesicherten Daten vorzuliegen, die über die Größenordnung dieser Nutzergruppen Aufschluss geben. Offenkundig ist jedoch, dass die neuen digitalen Kommunikationsformen gesellschaftliche Spaltungs- und Konfliktlinien reproduzieren und tendenziell verstärken, und insofern die Agenda extremistischer demokratiefeindlicher Parteien und Akteure unterstützen.
3. Praktische Konsequenzen
Soll sich eine Demokratie gegen ihre Feinde wehren, indem sie ihnen das Recht auf Meinungsfreiheit in den digitalen Netzwerken entzieht? Und wer entscheidet, welche Personen als „Feinde der Demokratie“ angesehen werden sollen? Die Fragen bezeichnen ein Dilemma, und darüber wird kontrovers und auch ratlos diskutiert. Äußerst problematisch die Forderung, die Betreiber der digitalen Kommunikationsplattformen zu beauftragen, demokratie- und menschenrechtsfeindliche Inhalte zu säubern und einzelne Stimmen zu sperren (sog. „deplatforming“). Einem privaten Unternehmen fehlt jegliche Legitimation, in die Grundrechte ihrer Kunden einzugreifen. In einem demokratischen Rechtsstaat ist es die Aufgabe der Gesetzgebung und der Rechtsprechung, gegen jene vorzugehen, die ihre Meinungsfreiheit missbrauchen, um Demokratie und Menschenrechte anzugreifen. Die Netzpolitik von Nationalstaaten tut sich jedoch schwer, globale Kommunikationsnetze effektiv und legitim zu regulieren. Inwieweit dies einem transnationalen Akteur wie der EU gelingt, bleibt abzuwarten.
Daraus folgt, dass ein konstruktiver Umgang mit den – freiheitlichen wie destruktiven – Potenzialen der digitalen Kommunikationsmedien nicht nur eine politische, sondern vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe ist: „Nun haben die sogenannten ‘neuen Medien’ alle Nutzer zu potenziellen Autoren gemacht – und wie die Nutzer der Presse erst lesen lernen mussten, muss auch die Nutzung des neuen Mediums gelernt werden.“ (Habermas 2020 a, S. 27. Hervorh. i. Or.). Dieser Lernprozess brauche seine Zeit, so Habermas, jedoch sicher deutlich weniger als das Lesen Lernen.
Daher ist auch EDC/HRE herausgefordert, einen Beitrag zu leisten, der bei der Verantwortung und den Medienkompetenzen der einzelnen Nutzerinnen und Nutzer ansetzt. Nach unserer Auffassung verfolgt Medienbildung in EDC/HRE das Ziel, die persönlichen Ressourcen der Lernenden – ihre Kompetenzen, Haltungen, Wertvorstellungen und Selbstkonzepte – zu stärken, um ihnen den konstruktiven Umgang mit dem Komplexitätsproblem im Bereich der digitalen Kommunikation zu erleichtern, sie zu ermutigen, ihre Teilhaberechte der Informations- und Meinungsfreiheit wahrzunehmen und sie darin zu bestärken, der Verbreitung von Hassbotschaften und Falschinformationen im Netz entgegenzuwirken.
In der Einleitung zu dieser Einheit (Information für Lehrpersonen) sind die Ziele der Medienbildung, die dieser Einheit zu Grunde liegen, näher beschrieben.