1.1.1 Der Doppelcharakter der Politik
Wer Nachrichten aus den Medien empfängt wird feststellen, dass sich ein beträchtlicher Teil der politischen Medienberichterstattung einer der beiden folgenden Kategorien zuordnen lässt:
- Politiker greifen ihre Gegner an. Damit stellen sie möglicherweise die Integrität ihrer Konkurrentinnen oder deren Fähigkeit in Frage, ihr Amt zu führen oder mit bestimmten Problemen umzugehen. Infolgedessen nehmen manche Bürger Politik als „schmutziges Geschäft” wahr und wenden sich angewidert ab.
- Politische Akteure diskutieren Lösungen für schwierige Probleme, die das eigene Land oder andere Länder betreffen.
Diesen beiden Kategorien politischer Auseinandersetzungen kennzeichnen den Doppelcharakter der Politik. Dem entspricht Max Webers klassische Definition:
„Wer Politik treibt, erstrebt Macht.“3 Ohne Macht können politische Akteure nichts gestalten oder durchsetzen. In demokratischen Systemen konkurrieren die politischen Akteure um die Gunst und die Unterstützung der Öffentlichkeit, um sich eine Mehrheit zu verschaffen. Zum politischen Geschäft gehört daher, den Gegner anzugreifen, z.B. im Wahlkampf, um Wählerinnen oder neue Parteimitglieder zu gewinnen.
„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich”.4 Diese Metapher von Max Weber steht für die Anstrengung, politische Probleme zu lösen. Politische Probleme sind dringlich, d.h. sie betreffen grundlegende Interessen der Allgemeinheit. Sie vertragen keinen Aufschub, erzeugen also Handlungszwang, und der Lösungsweg ist unbekannt5. Aus dieser Perspektive ist Politik ist etwas eminent praktisches und bedeutsames; politische Diskussionen müssen zu Entscheidungen führen.
Unter demokratischen Rahmenbedingungen müssen politische Akteure fähig sein, verschiedene Rollen auszufüllen, die sich gegenseitig ausschließen können: Der Kampf um Macht und Mehrheiten verlangt nach Menschen mit Charisma und rhetorischen Fähigkeiten, die eine komplexe Materie in einfache Worte fassen können. Die Losung der großen Probleme, die unsere Gegenwart und Zukunft betreffen, erfordert Persönlichkeiten, die über wissenschaftliche Expertise, Kompetenz, Verantwortungsbewusstsein und Integrität verfügen.
1.1.2 Politik in der Demokratie – eine anspruchsvolle Aufgabe
Wir denken vermutlich zunächst an Spitzenpolitiker, wenn wir nach Akteuren suchen, die den widersprüchlichen Rollen in der Politik gerecht werden sollen. Es gibt auch Extrembeispiele, die nur eine der beiden Rollen besetzen – der „Populist” und der „Professor”. Der Populist verwandelt die politische Arena in eine Showbühne, der Professor in einen Vorlesungssaal. Der erste gewinnt vielleicht die Wahlen, hat jedoch wenig zu bieten, um das Land voranzubringen. Der zweite mag zwar gute Ideen haben, die sich jedoch nur wenigen Menschen vermitteln lassen.
Vor der Herausforderung, beide Rollen ausfüllen zu können, stehen jedoch nicht nur Spitzenpolitiker und Entscheidungsträgerinnen, sondern auch Bürgerinnen und Bürger, die sich politisch betätigen möchten. In der Öffentlichkeit ist die Redezeit bzw. die Aufmerksamkeitsspanne der Medien z.T. äußerst begrenzt, so dass sich nur jene Redner durchsetzen können, deren Botschaft klar und eingängig ist. Wer seriös argumentieren will, hat es schwer gegenüber populistischen Vereinfachern. Lehrpersonen werden erstaunliche Parallelen zwischen der Kommunikation in der Öffentlichkeit und in der Schule entdecken – die knapp bemessene Zeit und die Notwendigkeit, sich klar und einfach auszudrücken, und zugleich komplexe Sachverhalte bewältigen zu können.
Die Wahrnehmung von Menschenrechten – etwa die Meinungs- und Redefreiheit und die Beteiligung an Wahlen – ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die allen Bürgerinnen und Bürgern obliegt – nicht nur den politischen Entscheidungsträgern. In EDC/HRE erhalten junge Menschen ein breites Kompetenzentraining, und sie erfahren die Ermutigung, die sie brauchen, um sich an öffentlichen Debatten und Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Als Mitglieder der Schulgemeinschaft lernen die Schülerinnen und Schüler, an einer Gesellschaft teilzuhaben, die sich an den Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten orientiert.
1.1.3 Der Politikzyklus: Politik als Prozess der Problemlösung6
Das Modell des Politikzyklus versteht politische Entscheidungen als Prozesse der Problemlösung, und es stellt ihre Phasenstruktur in idealtypischer Weise dar, d.h. es vereinfacht die komplexe Realität, um das Wesentliche politischer Entscheidungsprozesse hervorzuheben.
Am Beginn eines politischen Entscheidungsprozesses steht der Streit, worin überhaupt das Problem besteht, das zu lösen ist (Problemdefinition). Wer ein politisches Problem definiert, denkt eine Lösung bereits mit, die den eigenen Interessen und Wertvorstellungen entspricht. Die Problemdefinition ist also eine Machtfrage („Agenda-Setting“). In den folgenden Phasen werden Lösungen werden diskutiert, beschlossen und umgesetzt. Ob die beschlossenen Problemlösungen als erfolgreich anerkannt werden und auf Akzeptanz stoßen, hängt von der öffentlichen Meinung und jenen Personen und Gruppen ab, deren Interessen davon betroffen sind. Minderheiten, die zuvor überstimmt wurden oder Gruppen, die zu schwach waren, ihre Interessen zu artikulieren, können nun versuchen, für ihre Kritik Unterstützung zu finden. Gilt ein Lösungsversuch als erfolgreich – auch hier ist entscheidend, wer das Problem als „gelöst“ von der politischen Agenda nehmen kann –, ist der Politikzyklus beendet (Terminierung). Erweist er sich jedoch als gescheitert oder nicht annehmbar, so beginnt der Zyklus von neuem. Das geschieht, wenn die Lösung eines politischen Problems Folgeprobleme erzeugt, die in einem neuen Politikzyklus bearbeitet werden müssen.
In einer demokratisch verfassten, pluralistischen Gesellschaft lässt sich das Modell des Politzyklus nicht nur auf politische Entscheidungsprozesse anwenden, sondern auch auf demokratisch geführte Schulen. Die folgenden Merkmale bilden gewissermaßen die Schnittmenge zwischen Problemlösungsprozessen auf der Makroebene der Politik und der Mikroebene einer Schule. Genau darauf bezieht sich EDC/HRE als ganzheitlicher Ansatz demokratischer Schulführung:
- Wer bestimmt, welches Problem auf die Tagesordnung kommt?
- Wer kennt die Lösung des Problems?
- Wie sind die Chancen verteilt, auf den Entscheidungsprozess Einfluss zu nehmen?
- Welche Rolle spielt eine kritische Öffentlichkeit?
Zu 1: In einer demokratisch geführten Schule können alle am Schulleben Beteiligten Probleme benennen, die sie gelöst sehen wollen. Wie auf der Makoebene verfolgen Schulleitung, Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler, Eltern, Vertreter der Behörden, Gemeindeverwaltung, regionalen Wirtschaft usw. unterschiedliche Interessen, und im konkurrierenden Agenda-Setting sind ihre Chancen ungleich verteilt.
Zu 2: Jeder Akteur stellt sich eine Problemlösung vor, die seinen Interessen und Zielen entspricht, doch in einer pluralistischen Gesellschaft kennt niemand die „richtige Lösung“. Anders als in einer Diktatur besitzt niemand die Deutungshoheit, das Gemeinwohl definieren zu können. Die am politischen Prozess beteiligten Parteien, Gruppen oder Einzelpersonen müssen sich darauf verständigen, wie sie das Gemeinwohl bestimmen wollen – zumeist als einen Kompromiss; auf der Mikroebene der Schule verhält es sich nicht anders.
Das Modell des Politikzyklus beschreibt aus dieser Perspektive einen gemeinsamen Lernprozess – man könnte von einem konstruktivistischen Verständnis des Gemeinwohlkonzepts sprechen: Gemeinwohl ist das, was die Mehrheit zu einem gegebenen Zeitpunkt darunter versteht.
Zu 3: In Demokratien habe alle Bürger die gleichen Rechte und Pflichten (Gleichheitsgrundsatz der Menschenrechte). In der gesellschaftlichen Wirklichkeit jedoch sind die Chancen demokratischer Partizipation ungleich verteilt. Das bedeutet, dass manche Gruppen und Einzelpersonen in der Gesellschaft über weniger Macht verfügen und an der politischen Entscheidungsfindung wenig oder überhaupt nicht teilhaben; auch in Schulen ist das so. Das Modell des Politikzyklus macht darauf aufmerksam, dass eine Demokratie sich durch die Inklusion der Schwächeren legitimieren muss, um ihren Fortbestand nicht zu gefährden.
Zu 4: Die Chancen der Teilhabe mögen ungleich verteilt sein, jedoch kommt es darauf an was man aus ihnen macht. Es gibt historische und aktuelle Beispiele genug, dass die vermeintlich Schwächeren sehr viel bewegen können. Heute erleben wir, dass das Internet und das Smartphone eine neue Qualität der Öffentlichkeit geschaffen hat. Neben die klassischen Print- und Rundfunkmedien kann heute jeder Einzelne sich öffentlich zu Wort melden und eigene Texte, Bilder und Videos einbringen. Neben allen Problemen, die damit einhergehen (z.B. die Kampagnen der sog. Hater und Trolle, Cybermobbing) eröffnen sich neue Teilhabechancen, die noch vor wenigen Jahren nicht vorstellbar waren und die sich rasant weiterentwickeln dürften. Auch die Schulöffentlichkeit wandelt sich entsprechend: Eine Schulleiterin wäre schlecht beraten, die Impulse und kritischen Diskussion der Schülerinnen und Schüler, die sowohl inner- als auch außerschulisch geführt werden, zu ignorieren.
Der Politikzyklus ist ein Modell, ein Konstrukt, das ähnlich wie eine Landkarte funktioniert. Modelle wie auch Landkarten zeigen viel und folgenr eine Logik, die das Verstehen erleichtert. Ohne Vereinfachungen und Auslassungen wäre jede Landkarte und jedes Modell überfrachtet, und sie würden ihren Zweck verfehlen. Deswegen sollte niemand das Modell des Politikzyklus mit der Realität verwechseln – so wie es niemandem einfiele, eine Landkarte für die von ihr abgebildete Landschaft selbst zu halten. Das Modell des Politikzyklus fokussiert auf den Prozess der politischen Entscheidungsfindung – „das starke langsame Bohren von harten Brettern” –, jedoch auch die zweite Dimension des Politischen bei Max Weber, das Streben und Ringen nach Macht und Einfluss, ist berücksichtigt, nämlich beim Streit um die politische Agenda und um die Bewertung der Problemlösung.
Das Modell des Politikzyklus verdeutlicht, dass in demokratischen Systemen sind die beiden Dimensionen des Politischen in einem nicht auflösbaren Spannungsverhältnis verschränkt sind: politische Entscheidungsträger ringen mit schwierigen Problemen, und sie ringen mit ihren politischen Gegnern. Im Modell des Politikzyklus ist der Streit mit dem politischen Gegner sowohl eine Machtfrage als auch das Ringen um die beste Problemlösung.
Das folgende Beispiel veranschaulicht dies: In einem Wahlkampf behauptet eine Interessengruppe, die Steuern seien zu hoch und würden Investoren abschrecken, während eine andere argumentiert, die Steuern seien zu niedrig, da das Bildungswesen und die Sozialversicherungen unterfinanziert seien. Hinter diesen beiden Definitionen des Besteuerungsproblems stehen konträre Interessen und politische Grundhaltungen, und folgerichtig weisen die Lösungen in entgegengesetzte Richtungen: Steuersenkungen für Besserverdienende – oder Steuererhöhungen. In der Definition des Problems ist bereits die Lösung mitgedacht –im Sinne einer neoliberalen bzw. sozialdemokratischen Agenda: Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen vs. Versorgung der sozial Benachteiligten.
Streit mag nicht immer schön sein, doch Demokratie ohne Streit ist undenkbar. Den Bürgern bzw. den Lernenden (Sekundarstufe I und II) sollte also der Doppelcharakter der Politik – Problemlösung und Machtkampf – bewusst sein. Das Modell des Politikzyklus hilft ihnen, die Anstrengungen politischen Entscheidungsträger zur Problemlösung zu erkennen und zu beurteilen.
3. Weber, M. (1997; Original 1919): Politik als Beruf. Stuttgart: Reclam, S. 7.
4. Weber, a.a.O., S. 82.
5. Vgl. Gagel, W. (2000): Einführung in die Didaktik des politischen Unterrichts. 2. Aufl. Opladen: Leske + Budrich, S. 93 ff.
6. Ackermann, Paul u. a. (Hrsg.; 2013): Politikdidaktik kurzgefasst. Planungsfragen für den Politikunterricht. 3. Aufl., Schwalbach: Wo¬chen¬schau Verlag, S. 31 ff. In Band IV, Einheit 6 dieser Handbuchreihe ist eine Einheit beschrieben, die mit diesem Modell des Politikzyklus arbeitet. https://www.living-democracy.com/de/textbooks/volume-4/part-2/unit-6/