2. Kinderrechte und das Recht auf Bildung12
Living Democracy » Textbooks » Demokratiebildung verstehen » Teil 1 – Demokratie und Menschenrechte verstehen » Einheit 1 – Was die Konzepte bedeuten » 2. Kinderrechte und das Recht auf Bildung12Kinderrechte genießen einen umfassenden Schutz durch ein umfangreiches Instrumentarium auf internationaler und regionaler Ebene, das die Menschenrechte, humanitäres Völkerrecht und Flüchtlingsrecht mit einschließt. Kinder und Jugendliche profitieren von Rechten, die in allgemeinen Abkommen verankert sind. Außerdem wurde eine Reihe von spezifischen Instrumenten geschaffen, die Kindern angesichts ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit und Bedeutung für die gesamte Gesellschaft einen zusätzlichen Schutz gewähren sowie ihre gesunde Entwicklung und aktive Partizipation sicherstellen.
Die Europäische Menschenrechtskonvention enthält zahlreiche Bestimmungen zum Schutz der Kinderrechte, z.B. das Recht auf Bildung (im Zusatzprotokoll, Artikel 2). Das übergreifende Regelwerk für die Kinderrechte bildet jedoch die UNO-Kinderrechtskonvention von 1989 (KRK). Die KRK war das erste Übereinkommen, das sich spezifisch mit den Kinderrechten befasste. Ihr Ansatz betonte Verbindlichkeit der Kinderrechte und stellte insofern einen Paradigmenwechsel dar, da nun Vertragsstaaten, welche die Bedürfnisse von Kindern missachteten, zur Verantwortung gezogen werden konnten. Die KRK betrachtete Kinder nunmehr als Träger ihrem Alter entsprechender Rechte und Pflichten und überwand die Vorstellung, Kinder seien das Eigentum ihrer Eltern oder hilflose Fürsorgeempfänger.
Die Kinderrechte umfassen alle Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen und lassen sich auf die folgenden vier Kategorien reduzieren:
- Rechte zur Sicherung des Überlebens: das Recht auf Leben und die Deckung der grundlegendsten Bedürfnisse (z. B. angemessener Lebensstandard, Obdach, Nahrung, ärztliche Behandlung);
- Rechte auf Entwicklung: das Recht der Kinder und Jugendlichen Kindes auf volle Entfaltung ihrer Potenziale (z. B. das Recht auf Bildung, Spiel und Freizeit, kulturelle Aktivitäten, Zugang zu Informationen; Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit);
- Teilhaberechte: diejenigen Rechte, die Kindern und Jugendlichen erlauben, eine aktive Rolle in ihrer Gesellschaft zu spielen (z. B. das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Mitsprache in allen Fragen, die ihr Leben betreffen, oder das Recht, einer Vereinigung beizutreten);
- Schutzrechte: Rechte, die Kinder und Jugendliche vor jeder Form der Missbrauchs, Vernachlässigung und Ausbeutung schützen (z. B. besondere Betreuung von Flüchtlingskindern und Schutz vor einer Beteiligung an bewaffneten Konflikten, Schutz vor Kinderarbeit, sexueller Ausbeutung, Folter und Drogenmissbrauch).
- In der KRK wird Bildung wird als eigenständiges Menschenrecht und auch als unverzichtbares Mittel zur Verwirklichung anderer Menschenrechte verstanden. Ein Bildungssystem, das sich zur Anerkennung der Kinder- und Menschenrechte verpflichtet hat, ist besser vorbereitet, um seine grundlegende Aufgabe – eine hochwertige Bildung für alle – zu erfüllen.
Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) lautet:
1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.
2. Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.
3. Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteilwerden soll.13
Art. 26 AEMR schafft die Grundlage des Menschenrechts auf Bildung. Darauf aufbauend definiert Artikel 28 der KRK Bildung als Kinderrecht, und Artikel 29 fordert, dass die Bildung Kinder und Jugendliche darin unterstützen solle, ihre „ (…) Persönlichkeit, (…) Begabung und (…) geistigen und körperlichen Fähigkeiten ( …) voll zur Entfaltung zu bringen”.14
Sowohl die KRK als auch die AEMR erkennen an, dass die schulische Bildung auch die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten fördern sollte. Um die Menschenrechte jedoch wirklich zu verstehen und zu stärken, muss man sie in Beziehungen mit Anderen leben. Dazu gehört, sich Kenntnisse über die Menschenrechte anzueignen, sie zu verstehen, seine Lebenspraxis an den Menschenrechten zu orientieren und sich für ihren Schutz und Geltung einzusetzen. Deshalb muss ein menschenrechtsbasierter Ansatz (MRBA)15 in der schulischen Bildung auch die Gelegenheit bieten, die Werte und die Systematik der Menschenrechte kennen zu lernen und in der Klassengemeinschaft zu praktizieren. Schulen, welche die Kinderrechte berücksichtigen, stellen damit die Menschenwürde des Kindes in den Mittelpunkt.
Das Recht auf Bildung erhebt den Anspruch, für alle Menschen zu gelten und realisiert zu werden – ungeachtet der individuellen Fähigkeiten, Hautfarbe, ethnischer oder sozialer Herkunft, Religion, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, sexueller Präferenz, oder eines anderen Merkmals. Eine derartige Bildung muss darüber hinaus im Sinne der KRK so ausgerichtet sein, dass sie die Würde und die grundlegenden Menschenrechte der Schülerinnen und Schüler achtet.
Das Diskriminierungsverbot ist ein Grundprinzip, das sowohl im den Menschenrechten als auch für den MRBA von zentraler Bedeutung ist. In der schulischen Bildung hat das Diskriminierungsverbot zu vielfältigen Konsequenzen geführt, unter anderem zum gleichberechtigten Zugang zu hochwertiger Bildung für Alle, unter besonderer Berücksichtigung schutzbedürftiger oder benachteiligter Gruppen.
Die UNICEF-Initiative „Kinderfreundliche Schulen” und MRBA in der schulischen Bildung verfolgen das Ziel, die KRK in bzw. durch die schulische Bildung umzusetzen. Um einen MRBA zu praktizieren, müssen wir mehr über Menschen- und Kinderrechte wissen und ihre Implikationen für die Theorie, die Planung und Evaluation von Bildungsprozessen überblicken. Wir müssen uns Fragen wie die folgenden stellen:
- Wer hat keinen Zugang zu Bildung? Wo befinden sich diese Kinder und Jugendlichen, und weshalb sind sie ausgeschlossen?
- Wer muss was unternehmen, um das Recht auf Bildung für alle zu schützen, zu fördern und zu erfüllen?
- Wessen Fähigkeiten in welchen Bereichen müssen gefördert werden, damit das Recht auf Bildung für alle gewährleistet werden kann?
- Wer muss was unternehmen, um das Recht auf Bildung zu gewährleisten, und wie können Partnerschaften diesen Prozess unterstützen?
Wenn wir uns mit diesen Fragen befassen, sollten wir uns an den folgenden Prinzipien orientieren:
Prinzip 1: Sich ausdrücklich auf die Rechte berufen
Dazu stellen wir uns die folgenden Fragen: Berufen wir uns in unseren Bildungsanstrengungen ausdrücklich auf die Menschenrechte? Berücksichtigen wir in unseren Bemühungen das ganze Spektrum der Menschenrechte? Sind die ausführlich behandelten Menschenrechte von wirklich bedeutsam für die Bedürfnisse und Probleme in unserer Gesellschaft, bzw. lassen sie sich verknüpfen? Sind wir bereit, bei der Orientiertung unserer Arbeit an den Werten der Menschenrechte unsere individuelle „Komfortzone” zu verlassen?
Prinzip 2: Rechenschaftspflicht
Betrachten sich die Vertreterinnen der Exekutive sowie die staatlichen Bediensteten unter uns als verantwortlich für die Sicherung der Menschenrechtsbildung? In wieweit sind wir Rechenschaft schuldig ? Wie können Kinder und ihre Erziehungsberechtigten diese Rechenschaft einfordern?
Prinzip 3: Ertüchtigung16 und Partizipation
Wenn wir an jene Personen denken, für deren Menschenrechtsbildung wir uns verantwortlich fühlen: Haben wir die Vorstellungen all jener einbezogen, die von unseren Maßnahmen und Handlungen betroffen sind? Wer fehlt bei unseren Sitzungen, an denen wir Entscheidungen fällen, die sie oder ihn betreffen? Wenn diese Personen nicht anwesend sind oder an den Diskussionen beteiligt wurden, wie können wir sie einbeziehen? Wie können wir es ihnen ermöglichen, ihre Vorstellungen über das Wer, Was, Wie und Wann in EDC/HRE einzubringen?
Prinzip 4: Nichtdiskriminierung und Beachtung schutzbedürftiger Gruppen
Und schließlich müssen wir uns fragen, welche Gruppen derzeit vermutlich am wenigsten von unseren Bildungsprogrammen profitieren und wie wir dafür sorgen können, dass auch sie daran teilhaben. Gerade jene Gruppen, denen die Menschenrechte tagtäglich verweigert werden – ausgegrenzte, verwundbare und diskriminierte Menschen – würden am meisten von unserem Einsatz für die Menschenrechtsbildung profitieren. Wie können wir diese Gruppen ermitteln, sie erreichen und Bildungsprogramme schaffen, die wirklich bedeutsam für sie sind?
12. Autorin: Felisa Tibbitts (2009). Beitrag zur Konferenz des Europarats zur Evaluation des Europäischen Jahres der Demokratiebildung, 27.–28. April 2006, Sinaia, Rumänien.
13. https://www.unric.org/de/menschenrechte/16 (Abruf am 25.11.2021)
14. Zahlreiche UNO- und Menschenrechtsakte verweisen auf das Recht auf Bildung, so auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Sozialpakt, Artikel 14) und die Konvention über die Rechte des Kindes (Artikel 28 und 29). Weitere grundlegende Erklärungen, allgemeine Kommentare und Dokumente haben das Recht auf Bildung ausgeweitet, so die World Declaration on Education for All (Artikel I, II, IV, VI, VII), The Dakar Framework for Action (keine deutschsprachige Übersetzung verfügbar; https://www.un.org/en/development/devagenda/education.shtml (Abruf am25.11.2021)) und EFA (Education for All) https://unevoc.unesco.org/home/Education+For+All (Abruf am 25.11.2021).
15. Vgl. dazu das HRBA Portal (http://hrbaportal.org/; Abruf am 25.11.2021).
16. Im engl. Original: „empowerment“.