1. Herausforderungen für das traditionelle Modell demokratischer Teilhabe

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Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich mehrere Modernisierungsprozesse (siehe Kasten auf der Folgeseite) beschleunigt und verstärkt. Die tief greifenden Umwälzungen, die derzeit in ganz Europa stattfinden, haben das herkömmliche Modell der Teilhabe in Frage gestellt:

  • Die Globalisierung des freien Handels und wettbewerbsorientierter Marktwirtschaften hat den Menschen in vielen Ländern Wohlstand beschert – aber nicht allen. Ungleiche Verteilung des Wohlstands zwischen Arm und Reich hat sich sowohl innerhalb als auch zwischen den Gesellschaften verschärft, und diese Entwicklung gefährdet den sozialen Zusammenhalt und die zwischenmenschliche Solidarität.
  • Der Wettbewerb zwingt die Unternehmen, ihre Produktivität ständig zu steigern, um ihre Kosten zu senken. Der Wettbewerbsdruck hat einen permanenten Innovationsprozess in Gang gesetzt, der sich unmittelbar auf Produkte, Technologien und Arbeitsplätze auswirkt indirekt unsere gesamte Lebensweise erfasst. Joseph Schumpeter bezeichnete diesen Prozess als „schöpferische Zerstörung”18. Die Transformation ganzer Volkswirtschaften in Osteuropa nach 1991 war ein besonders eindrucksvolles Beispiel.
  • Mit dem Wachstum der Wirtschaft nahm der Wohlstand, jedoch auch der Verbrauch natürlicher Ressourcen zu. Hinzu kommen steigende CO2-Emissionen, und verursachen wachsende Probleme und Kosten, den Klimawandel (noch) abzuwenden oder sich ihm anzupassen.
  • Informations- und Kommunikationstechnologien schaffen neue Möglichkeiten zur Produk-tivitätssteigerung, zur Beschaffung und zum Austausch von Informationen oder zur Freizeitgestaltung, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir leben in einer Medienkultur, und Medienkompetenz – die Kompetenz, die neuen Medien sowohl zum Erstellen (produktiv) als auch zum Empfang (kritischrezeptiv) von Information und Mitteilungen zu nutzen – gehört inzwischen zu den Grundfertigkeiten wie Lesen und Schreiben.
  • Dank dem Wirtschaftswachstum und den Errungenschaften der modernen Medizin nimmt der Anteil alter Menschen an der Bevölkerung vieler europäischer Länder zu, ebenso wie die Weltbevölkerung. Beide Entwicklungen sind ein ernstes Problem für das 21. Jahrhundert.
  • Nationalstaaten haben ein Recht auf Souveränität und Selbstbestimmung. Allerdings ist das Konzept nationaler Selbstbestimmung konfliktträchtig, denn es grenzt sowohl ein als auch aus. Ethnische Gruppen oder ganze Völker, die während des Kalten Krieges unterdrückt waren, beanspruchen nun ihre Anerkennung oder sogar ihr eigenes staatliches Territorium.
  • Säkularisierung und Pluralisierung ist ein Merkmal moderner Gesellschaften. Zu dieser Entwicklung hat die Migration in Europa – vor allem innerhalb der Europäischen Union – maßgeblich beigetragen. Pluralistische Gesellschaften sind dynamischer und produktiver, doch ist ihr sozialer Zusammenhalt prekär und erfordert höhere Anstrengungen, um Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und sozialer bzw. ethnischer Herkunft, sowie mit gegensätzlichen Werten und Interessen zu integrieren.
  • Demokratien bieten die besten Chancen, auf diese Herausforderungen zu antworten, denn jeder Versuch eines autoritären Regimes, diese und weitere Probleme mit autoritären Mitteln zu lösen, wird scheitern, da er der komplexen Realität von Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt, Konfliktlösungen usw. nicht gerecht zu werden vermag – weder auf nationaler, geschweige denn supranationaler Ebene. Zugleich steht und fällt die Demokratie mit dem Versprechen gleichberechtigter Partizipation. Je komplexer unsere Welt und die Herausforderungen für unsere Zukunft werden, desto schwieriger wird es für den „normalen Bürger“, politische Entscheidungsprozesse zu durchschauen und an ihnen teilzuhaben. Das Misstrauen vieler Menschen gegenüber den traditionellen politischen Institutionen, Verfahren und politischen Eliten wurzelt im Gefühl, übergangen und nicht gehört zu werden. Demokratie und Menschenrechte sind prekäre Errungenschaften, und ihr Fortbestand hängt davon ab, ob ihr Erbe an die nächste Generation weitergegeben werden kann.

Diese Entwicklungslinien und Prozesse lassen sich hier nur in groben Zügen skizzieren. Sie sind nicht etwa naturgegeben, sondern beruhen auf menschlichem Handeln. Sie sind miteinander verschränkt und verstärken sich wechselseitig. Da sie menschengemacht sind, sind sie beeinflussbar und ihre Richtung und Auswirkungen sind veränderbar, nicht jedoch ihre Komplexität.

Modernisierung

Der soziologische Begriff der Modernisierung bezieht sich auf den mehrdimensionalen Prozess des sozialen Wandels. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Modernisierung zwar an Geschwindigkeit, Ausmaß und Komplexität zugenommen, doch aus einer historischen Perspektive gehen ihre Ursprünge auf die Erfindung des Buchdrucks, die Reformation, die Aufklärung, die Revolutionen in Großbritannien, den USA und in Frankreich sowie auf die Industrielle Revolution zurück. Die Modernisierung hat buchstäblich jeden Aspekt des menschlichen Lebens verändert, u.a. die folgenden: wie wir arbeiten und was wir dabei jtun, wo wir leben und wie (oft) wir reisen, das Niveau und die Verteilung des Wohlstands, die Entwicklung der Menschenrechte, die Globalisierung, den technologischen Fortschritt, die Werte und Glaubensvorstellungen, die wir vertreten oder ablehnen, und wie wir uns an Politik und Gesellschaft beteiligen.

Modernisierung ist ein ambivalenter Prozess, dem wir uns nicht entziehen können, denn sie ist unser „Schicksal” im Guten wie im Schlechten. Wissenschaftler und Philosophinnen sind sich uneins, ob die Modernisierung per Saldo eher ein Segen oder ein Fluch ist. Wir betrachten die Modernisierung als eine Herausforderung, die sowohl Risiken birgt als auch Chancen bietet. Diese Herausforderung müssen wir schon deswegen annehmen, um die Risiken unter Kontrolle zu halten.

Für viele Menschen in vielen Gesellschaften schafft die Modernisierung Potenziale und Chancen, höheren Wohlstand und größere Freiheit zu genießen. Gleichzeitig sind die Bürger und Entscheidungsträger stärker gefordert, um mit den damit einher gehenden, zunehmenden Risiken und Gefahren Schritt halten zu können.

Der Bildung kommt in modernen Gesellschaften eine Schlüsselrolle zu, da sie die Menschen zu den erforderlichen Kompetenzen verhelfen kann, ihre Bilanz zwischen den wachsenden Erträgen und Anforderungen des Modernisierungsprozesses positiv ausfällt19.

Angesichts der Tragweite dieser Herausforderungen wird zugleich klar, dass neue Formen der Teilhabe notwendig sind. Bürgerinnen und Bürgern sollten nicht nur ihre formalen Bürgerpflichten kennen und verstehen, sondern fähig und willens sein, aktiv etwas für ihre Kommune, ihr Land und für die übrige Welt zu tun. Durch ihre Teilhabe sollten sie zur Lösung von Problemen beitragen, jedoch auch ihre Individualität zum Ausdruck bringen. Wachsende Herausforderungen erfordern starke Gesellschaften mit kompetenten, d.h. gebildeten Führungspersonen und Bürgern.

Pädagoginnen und Pädagogen sind Optimisten. Sie glauben daran, dass junge Menschen ebenso wie lebenslang Lernende sich das Verständnis und die Mittel aneignen können, um die Entwicklungen in ihren Gemeinwesen und auf dem Planeten zu beein­flussen. Aktive Teilhabe lässt sich am besten durch schüler- und handlungsorientierte Lehr- und Lernformen fördern, doch wohl kaum durch frontale Instruktion, die weitgehend zum passiven Rezipieren und Auswendiglernen zwingt.

18. Schumpeter, J. A. (1993; englische Originalausgabe 1942): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Stuttgart: UTB.