3.4 Ein Modell der Schülerkompetenzen in EDC/HRE
Living Democracy » Textbooks » Demokratiebildung verstehen » Teil 1 – Demokratie und Menschenrechte verstehen » Einheit 3 – Demokratie und Menschenrechte lehren und lernen » 3. Kompetenzen in EDC/HRE25 » 3.4 Ein Modell der Schülerkompetenzen in EDC/HREWir beurteilen die Kompetenzentwicklung eines Lernenden auf Grund seiner Performanz (Leistung) – so wie wir sie wahrnehmen. Kompetenzen als solche sind unsichtbar und für uns nur über Modelle zugänglich, mit deren Hilfe sich Ziele definieren und Kriterien zur Beurteilung des Lernerfolgs gewinnen lassen.
Dieser Handbuchreihe für EDC/HRE liegt das folgende Kompetenzmodell zugrunde, das den Grundprinzipien von EDC/HRE entspricht: „durch”, „über” und „für” die Demokratie und Menschenrechte lehren und lernen.
Zu den Schülerkompetenzen in EDC/HRE gehören die folgenden:
- politische Analyse- und Urteilskompetenz;
- Methodenkompetenzen;
- Handlungs- und Teilhabekompetenzen;
- Selbstkompetenz und Sozialkompetenz.
3.4.1 Politische Analyse- und Urteilskompetenzen
Bürgerinnen und Bürger, die in einem demokratischen Gemeinwesen an politischen Entscheidungsprozessen teilnehmen wollen, müssen die Materie verstehen, um die gestritten und gerungen wird.
Sie müssen also entsprechend informiert und fähig sein, Probleme und Konfliktlinien zu analysieren. Dies ist die kognitive Dimension der Kompetenzentwicklung (Lernen „über” politische Probleme und Streitfragen).
Ohne hinreichend geschulte kognitive Kompetenzen Bürger können Bürger der Propaganda von Verschwörungstheoretikern, Demagogen, Lobbyisten und Populisten nicht kritisch begegnen, und sie sind auch nicht in der Lage, ihre individuellen bzw. Gruppeninteressen zu erkennen und auszuhandeln. Wir sind von den Medien als Informationsquelle abhängig und müssen deshalb in der Lage sein, von ihnen kritischen Gebrauch zu machen.
Menschen können nur dann politisch handeln, wenn sie wissen, was sie erreichen wollen. Sie müssen ihre Interessen und Ziele definieren können und dabei Wünsche und Bedürfnisse, Werte und Verantwortung gegeneinander abwägen. In der Politik geht es um Entscheidungsprozesse zum Zweck der Lösung von Problemen und Konflikten, und da Politik etwas Praktisches ist, besteht Entscheidungszwang. Ohne Urteilsbildung sind keine angemessenen Entscheidungen möglich – doch die Komplexität diese Aufgabe droht die Mehrzahl der Bürger zu überfordern.
Die wachsende Komplexität ist ein strukturelles Funktionsproblem moderner Demokratien. Manfred G. Schmidt spricht von „einer frustrierende(n) Diskrepanz zwischen unentwegt beschworenen bürgerschaftlichen Kompetenzen einerseits und kaum noch durchschaubaren und beeinflussbaren Verhältnissen der formellen und informellen Mehrebenensteuerung in den modernen Demokratien andererseits“. Weder Dezentralisierung noch „mehr Beteiligung“, so Schmidt weiter, seien geeignet Abhilfe zu schaffen, da sie die Komplexität sogar noch vergrößerten statt sie zu reduzieren. Zudem erzeugten derartige Versuche „neue Ungleichheit (…) : die ressourcenstärkeren Bürger sind die Nutznießer – und die ressourcenschwächeren werden abgehängt.“27
Es handelt sich um ein strukturelles Problem, da der Prozess der Modernisierung nicht umkehrbar ist. Mit Komplexität umgehen bedeutet, nicht alles „wissen“ und „verstehen“ zu können, und dennoch entscheiden zu müssen, ohne die Folgen und Auswirkungen, für die wir Verantwortung übernehmen, überschauen zu können. Daraus folgt, dass Demokratie- und Menschenrechtsbildung eine Schlüsselaufgabe zufällt: sie kann zwar keine „Ressourcengleichheit“ zwischen den Bürgerinnen und Bürgern herstellen oder das Problem des Nichtwissens28 aus der Welt schaffen – das gaukeln Populisten vor –, wohl aber dazu beitragen, durch die Stärkung der Analyse- und Urteilskompetenz allen Lernenden eine bessere Chance zu geben und sie darauf vorbereiten, an politischen Entscheidungsprozessen verantwortungsbewusst teilzuhaben.
3.4.2 Methodenkompetenzen
Methodenkompetenzen sind geistige Werkzeuge – Fertigkeiten bzw. Techniken – mit Hilfe derer Lernende Informationen beschaffen und verarbeiten können, um eigenständig und an wissenschaftlichen Maßstäben orientiert ihr Urteil bilden zu können. Diese Methodenkompetenzen befähigen sie,
- sich Informationen durch die Medien, eigene Erfahrung und Recherche zu beschaffen.
- Dazu benötigen Lernende u.a. Techniken zur Nutzung gedruckter und elektronischer Medien, Quellenkritik, Interviewtechnik, Rechercheverfahren, kritische Reflexion.
- Informationen auszuwählen und auszuwerten (konstruktivistisches Lernen). Dabei geht es um Planung, Zeitmanagement, Lesen, Denken, Dokumentieren;
- sich ein Urteil zu bilden, es vorzutragen, argumentativ zu begründen und zu kommunizieren. Es geht um Techniken der Nutzung und Gestaltung von Medien (Handouts, Plakate, Artikel, Präsentationen, z.B. mit PowerPoint), Vortragstechnik, Diskutieren, Debattieren usw. (gemeinsames konstruktivistisches Lernen und Dekonstruktion);
- den Lernertrag, den Lernprozess und Transfer zu reflektieren.
Diese Methodenkompetenzen werden in einem hohen Maße nicht nur in EDC/HRE, sondern in allen Schulfächern benötigt. Sie schaffen die Grundlage für Ausbildung, Studium und anspruchsvolle, qualifizierte berufliche Arbeit. Methodenkompetenzen sind formal, d.h. nicht an spezifische fachliche Inhalte gebunden, deren Training daher in allen Schulfächern – auch fachübergreifend – möglich und notwendig ist.
3.4.3 Handlungskompetenzen
In EDC/HRE unterstützt durch das Training inhaltsunspezifischer Methodenkompetenzen das Lernen „für” die Demokratie und Menschenrechte, doch die Lernenden benötigen auch Handlungskompetenzen. EDC/HRE steht für einen ganzheitlichen Ansatz, der die Schule als Mikro-Gesellschaft ansieht, in der Lernende Formen der Teilhabe an Gesellschaft und Politik praktisch erproben können. Im Schulleben können sie die folgenden Kompetenzen trainieren:
- Sie reflektieren ihre Wünsche und Bedürfnisse, klären ihre Interessen und artikulieren sie.
- Sie nehmen an Wahlen als Wähler und als Kandidatinnen teil (z.B. Wahl des Klassensprechers oder Vertreterin im Schulparlament).
- Verhandeln und Entscheiden.
- Entscheidungsprozesse beeinflussen durch Öffentlichkeitsarbeit, Lobbying oder gemeinsame Aktionen;
- Verständnis und Akzeptanz für Verfahrensregeln und Sanktionen (politische Kultur).
EDC/HRE und der Handlungsraum Schule als Ganzes bieten den Schülerinnen und Schülern wichtige Lernchancen im Bereich sozialen und politischen Handelns. Die Möglichkeiten, das Partizipationsverhalten (Performanz) der Lernenden bzw. ihre Kompetenzentwicklung in der Schule zu beurteilen sind freilich begrenzt. Der entscheidende Transfer nämlich findet außerhalb der Schule bzw. im Erwachsenenalter statt, so dass es kaum möglich ist, den Beitrag der Schule für die Handlungskompetenzen der Bürger zu ermitteln. Hinzu kommt, dass die Teilhabeerfahrungen in der Schule sich nicht unmittelbar auf die Komplexität politischer Auseinandersetzungen übertragen lassen, in denen Auseinandersetzungen um politische Macht hinzukommen, die im Schulleben in vergleichbarer Weise nicht stattfinden. Hoch bedeutsam ist der ganzheitliche Schulansatz von EDC/HRE für die politische Sozialisation der Lernenden, also die Erfahrung einer zivilgesellschaftlichdemokratischen Kultur.
3.4.4 Selbstkompetenz und Sozialkompetenz
Der Kompetenzbegriff wird wohl etwas überstrapaziert, wenn man ihn auf die Dimension der Werte und Haltungen ausdehnt. Ob ein Kind oder ein Jugendlicher jedoch etwas aus seinen Kompetenzen macht, d.h. sich zutraut, die Wertzeuge zu nutzen, die ihm zur Verfügung stehen, ist eine Frage des Wollens, der Motivation oder des Mutes. Um diese Handlungsbereitschaft geht es im Begriff der Selbst- und Sozialkompetenz, zu der die folgenden Einstellung und Werthaltungen gehören:
- Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl;
- Empathie;
- gegenseitige Achtung;
- Bereitschaft zum Kompromiss;
- Verantwortung;
- Wertschätzung der Menschenrechte als gemeinsamer Werthorizont zur Wahrung des Friedens, der Gerechtigkeit und des sozialen Zusammenhalts.
Selbst- und Sozialkompetenz erwerben die Lernenden durch ihre Sozialisation in Familie und Schule. Nur die Schule kann für die Lernenden die Bedeutung dieser Kompetenz im öffentlichen Raum erfahrbar machen (Lernen „durch“ Demokratie und Menschenrechte).
27. Schmidt, Manfred G. (2010): Demokratietheorien. Eine Einführung. 5. Auflage, Wiesbaden: VS-Verlag. S. 500.
28. Zum Problem des Nichtwissens in der politischen Bildung: Sander, Wolfgang (2008): Politik entdecken – Freiheit leben. Didaktische Grundlagen politischer Bildung. 3. Aufl., Wochenschau-Verlag: Schwalbach/Ts., S. 86 f.