5.1 Überwältigungsverbot
Living Democracy » Textbooks » Demokratiebildung verstehen » Teil 1 – Demokratie und Menschenrechte verstehen » Einheit 3 – Demokratie und Menschenrechte lehren und lernen » 5. Der Beutelsbacher Konsens: Die Berufsethik von Lehrpersonen in EDC/HRE » 5.1 Überwältigungsverbot„Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.“
Zu 1: Die Lehrperson darf nicht versuchen, die Lernenden, mit welchen Mitteln auch immer, im Sinne einer erwünschten Meinung zu indoktrinieren, beispielsweise im Sinne politischer Korrektheit. D.h. sie muss ihre überlegende Argumentationskraft bändigen, um die Lernenden nicht zum Schweigen zu bringen oder bloßzustellen. Um die Lernenden bei „Gewinnung eines selbstständigen Urteils“ zu unterstützen, muss die Lehrperson jeden politischen Standpunkt und jedes Argument im Klassendiskurs begrüßen. Die Indoktrination der Lernenden durch die Lehrperson in EDC/HRE ist unvereinbar mit dem Ziel mündiger Bürgerinnen und Bürgern, die fähig und willens sind, an einer offenen Gesellschaft und einer freien, pluralistischen Demokratie zu partizipieren.
5.1.1 Konsequenzen für die Praxis
Manche Berufsanfänger neigen dazu, das Überwältigungsverbot als absolutes Neutralitätsgebot miss zu verstehen, so dass in letzter Konsequenz schon ein Lehrervortrag oder ein Lehrerimpuls als Überwältigung erscheinen könnte.
Die letztgenannte Befürchtung kann man durch den Hinweis auf das Wechselspiel von Instruktion und Konstruktion33 entkräften. Doch die Unsicherheit im Umgang mit dem Überwältigungsverbot ist verständlich, denn es birgt für die Lehrperson in der Tat ein Dilemma. Einerseits sollte sie sich aus Schülerdiskussionen heraushalten und sich darauf beschränken, diese zu moderieren und zu strukturieren bzw. durch sparsam gesetzte Impulse zu unterstützen. Wie notwendig diese Zurückhaltung ist, haben Untersuchungen gezeigt, in denen ehemalige Schülerinnen und Schüler berichteten, nirgends so stark missioniert worden zu sein wie durch die Lehrpersonen in der politischen Bildung. Andererseits nehmen die Lernenden die Lehrperson als politisch engagierten Bürger wahr, und zur Vorbildfunktion der Lehrperson gehört auch, sich öffentlich zu ihren Werten und Urteilen zu bekennen. Genau zu diesem Verhalten ermutigen Lehrpersonen die Lernenden in EDC/HRE, so dass ihre eigene Zurückhaltung als widersprüchlich und künstlich erscheint.
Wir empfehlen, dass die Lehrperson dieses Dilemma mit den Lernenden teilt. Sie ermutigt die Ler-nenden nicht nur, in Diskussionen Position zu beziehen, sondern begründet ihre Rolle im Sinne des Beutelsbacher Konsens. Die Lehrperson sollte grundsätzlich bereit sein, auch selbst die Fragen zu beantworten, mit denen sie die Lernenden konfrontiert, z.B. nach ihrer Wahlpräferenz. Ihren Standpunkt stellt die Lehrperson nur dar, wenn die Lernenden sie dazu auffordern. In diesem Falle sollte sie deutlich machen, dass sie nicht in ihrer beruflichen Rolle, sondern als Bürgerin spricht und übernimmt anschließend wieder die Moderation der Diskussion. Falls die Lernenden jedoch mit der Lehrperson diskutieren wollen, geht die Lehrperson darauf ein und achtet darauf, ihre Argumentationskraft derjenigen der Lernenden anzupassen. Die Lehrperson verdeutlicht, dass sie keine Deutungshoheit beansprucht, da es bei politischen Problemen „die“ richtige Lösung nicht gibt.
Wie soll sich die Lehrperson verhalten, wenn ein eine Schülerin oder ein Schüler Positionen vertritt, die z.B. als rassistisch, menschenrechts- oder demokratiefeindlich anzusehen sind? Wir empfehlen Lehrpersonen, auch in diesem Falle den Dialog zu suchen und den Schüler nicht durch Argumente oder moralische Appelle zum Schweigen zu bringen – dann wäre die Chance vertan, ihn von seinem Standpunkt abzubringen. Die Lehrperson sollte herausfinden, ob der Schüler provozieren oder Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte. Dann wäre die Erfahrung des Lernens „durch“ Demokratie und Menschenrechte ein Ansatz, ihn zu erreichen und seine Suchbewegung zu beeinflussen. Ist der Schüler bereits in seinem Weltbild gefestigt ist und gehört vielleicht bereits einer extremen Organisation an, muss die Lehrperson – falls es die Lernenden nicht tun – klar Position beziehen und mit Kolleginnen, Schulleitung und den Eltern sprechen.
33. Vgl. den vorherigen Abschnitt zum konstruktivistischen Lernbegriff.