2 – Material 1: Wie mache ich das Politische zum Gegenstand von EDC/HRE?56

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In EDC/HRE sollten die Schülerinnen und Schüler Politik verstehen lernen, um sich daran beteiligen zu können. Doch was ist unter Politik zu verstehen? Wie mache ich das Politische zum Thema einer Einheit oder Sequenz? Das folgende Beispiel soll einen Zugang zur Beantwortung dieser Frage liefern.

Ein Fallbeispiel

Eine Kleinstadt in einer ländlichen Gegend. Die einzige Schule am Ort versorgt nicht nur die Schüler innen und Schülern aus der Stadt, sondern in einem Einzugsbereich von 20 km aus allen Richtungen. Den Kindern und Jugendlichen aus den Nachbarorten steht ein Schulbus zur Verfügung. Die Gemeindeverwaltung finanziert eine Fahrpreisermäßigung von 25 % bis 75 % für Familien mit niedrigem Einkommen, vor allem jene, die zwei oder mehr schulpflichtige Kinder haben.

Nun hat die Wirtschaftskrise zu massiven Einbußen bei den Steuereinnahmen geführt. Die Vertreterinnen des Stadtparlaments diskutieren jetzt, wie man die kommunalen Ausgaben kürzen könnte, um die Verschuldung möglichst gering zu halten. Einflussreiche Politiker und Kommentatorinnen haben eine Kürzung oder gar die Streichung der Schulbuszulagen vorgeschlagen. Sie argumentieren, dass dieser Schritt die Gemeindekasse deutlich entlaste, aber den zahlreichen betroffenen Familien zuzu-muten sei, da die Mehrbelastung im Einzelfall kaum spürbar wäre. Viele Eltern teilen diese Sicht keineswegs und fordern die Beibehaltung der Familienzulagen.

Das Fallbeispiel ist fiktiv, jedoch dürften ähnliche Debatten in wirtschaftlich schwierigen Zeiten durchaus vorstellbar sein. Was ist an diesem Fall nun politisch?

Das Modell des dreidimensionalen Politikbegriffs

In der politischen Theorie ist der Politikbegriff ist in unterschiedlicher Weise definiert worden. In der Didaktik der politischen Bildung ist ein dreidimensionales Politikmodell verbreitet, das zwischen Inhalten, Prozessen und Institutionen unterscheidet. Aus pragmatischen Gründen folgen wir diesem Ansatz.

Die inhaltliche Dimension des Politischen (policy) bezeichnet politische Probleme, Konflikte oder die Interessen und Ziele politischer Akteure. Konkurrierende und gegensätzliche Interessen und Ziele sind ein Grundmerkmal der Politik, und in Demokratien, in denen öffentliche Meinungsbildung und Streit sich ungehindert entfalten können, treten Gegensätze zwischen politischen Akteuren besonders deutlich hervor. Dann spiegeln politische Debatten und Kontroversen die Vielfalt der Interessen, Werte und Meinungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Politische Probleme bilden den Kern der inhaltlichen Dimension des Politischen. Sie sind dringlich, denn sie betreffen die Interessen großer Gruppen oder der Gesellschaft insgesamt. Es besteht also Entscheidungszwang, und die Entscheidung muss umgesetzt werden, um das Problem zu lösen57.

Die prozessuale Dimension des Politischen (politics) fokussiert auf den Verlauf von Auseinandersetzungen, Konflikten oder politischen Entscheidungsprozessen und ihre Implementierung. Aus dieser Perspektive wird nach den Akteuren gefragt und ihren Chancen, ihre Ziele durchzusetzen. Wie verlaufen die Konfliktlinien, d.h. welche Akteure kooperieren und welche streiten gegen einander?

Die institutionelle Dimension von Politik (polity) fokussiert auf die politischen Institutionen. Sie beruhen auf der Verfassung bzw. den Gesetzen, die das Verfahren politischer Entscheidungsprozesse (z.B. die Gesetzgebung) regeln. Aus dieser institutionenbezogenen Perspektive stellen sich Fragen wie die folgenden: Wer hat die Macht was zu entscheiden? Wie werden Wahlen oder Volksabstimmungen abgehalten? Wie entstehen Gesetze? Welche Rechte stehen der parlamentarischen Opposition zu? Wie können Einzelne und Interessengruppen auf die politischen Prozesse Einfluss nehmen? Wer kontrolliert die Regierung und den Gesetzgeber?

Anwendung des dreidimensionalen Politikmodells des auf das Fallbeispiel

Die drei Dimensionen ermöglichen es, das Politische in EDC/HRE aus unterschiedlichen Perspektiven zu erfassen. Durch den Wechsel der Perspektiven fällt es den Lernenden leichter, die Komplexität eines politischen Sachverhalts zu ordnen. Jede dieser drei Perspektiven führt zu unterschiedlichen Fragen an den Gegenstand. Das folgende Raster soll am fiktiven Fallspiel zum Streit um Fahrtkostenzuschüsse für Schüler demonstrieren, wie sich ein politischer Gegenstand erschließen lässt durch Fragen, die sich mit Hilfe des dreidimensionalen Modells des Politischen generieren lassen.

Fragen
Antworten
Die Inhaltsdimension des Politischen (policy)
Worin besteht das Problem, das gelöst werden muss?

Die Gemeindeverwaltung muss mit knappen Ressourcen auskommen, d.h. sie muss bei ihren Ausgaben Prioritäten setzen.

Sie muss folgenden Zielkonflikt lösen: Belastung der Familien mit geringem Einkommen oder Gefahr einer höheren öffentlichen Verschuldung im konjunkturellen Abschwung.

Es besteht Entscheidungszwang.

Welche Akteurinnen sind involviert und welche Ziele oder Interessen verfolgen sie?

Lokalpolitiker und Kommentatoren fordern, neue Schulden unbedingt zu vermeiden und die Ausgaben der Gemeinde zu kürzen, um mit dem Rückgang der Steuern Schritt zu halten.

Eltern mit geringem Einkommen fordern, die Fahrtkostenzuschüsse für die Schulbusse beizubehalten

Welche Menschenrechte sind betroffen?

Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung

Recht auf Bildung

Recht auf soziale Sicherheit

Welche Lösungsvorschläge wurden vorgebracht oder werden diskutiert?

Kürzung oder Streichung der Fahrtkostenzuschüsse für Familien (Unterordnung eines Ziels unter das andere).

Suche nach einem Kompromiss. Um eine solche Lösung zu erreichen, müssten andere Ausgaben gekürzt oder höhere Einnahmen erzielt werden. Auch ein Mittelweg ist denkbar (Absenkung der Fahrkostenzuschüsse, geringerer Zuwachs der Schulden im Gemeindehaushalt).

Die Prozessdimension des Politischen (politics)
Wer ist am Entscheidungsprozess beteiligt? Politiker Medienvertreterinnen Familien
Welche Akteure sind sich einig, welche nicht? Fordern Fahrtkostenzuschüsse für Familien zu kürzen. Lehnen Kürzungen ab.
Welche Möglichkeiten haben die verschiedenen Akteure, um die endgültige Entscheidung zu beeinflussen? Verbindliche Entscheidung im Gemeindeparlament Berichte und Kommentare beeinflussen die öffentliche Meinungsbildung Unterstützung durch einen Teil der Bürger und der Medien
Wahlverhalten (politische Entscheidungsträger unterstützen oder schwächen)
Die institutionelle Dimension des Politischen (polity)
Welche Grundprinzipien der Verfassung oder der Rechtsordnung müssen beachtet werden? Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, soziale Sicherheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Recht auf Bildung
Welche Menschenrechtsdokumente sind bindend?

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948)

Europäische Menschenrechtskonvention (1950)

UNO-Kinderrechtskonvention (1989)

Welche politischen Institutionen sind beteiligt, und welche Entscheidungsbefugnisse haben sie? Gemeindeparlament als Gesetzgeber (Legislative) bestimmt mit der Mehrheit seiner Mitglieder die Richtlinien der Gemeindepolitik. Er kann also auch die Höhe der Fahrkostenzuschüsse für Familien mit geringem Einkommen festsetzen oder abändern.
Wie ist die Rechtslage?

Die betroffenen Familien können vor Gericht gegen die Entscheidung des Gemeindeparlaments klagen. Falls ihre Klage abgewiesen wird, müssen sie die Entscheidung hinnehmen.

Zusätzlich oder alternativ können sie in der Öffentlichkeit für ihre Sache werben, um die Mitglieder des Gemeinderats von den Kürzungen der Fahrtkostenzuschüsse abzubringen. Sie können auch im nächsten Wahlkampf dafür werben, für eine neue Mehrheit im Gemeindeparlament zu sorgen.

Was leistet diese Analyse in EDC/HRE?

Mit Hilfe des dreidimensionalen Politikmodells kann die Lehrperson einen politischen Gegenstand strukturiert durchdenken. Sie erkennt didaktische Alternativen, wie sie diesen Gegenstand zum Thema einer EDC/HRE-Sequenz machen kann, indem sie den Fokus auf eine Dimension des Politischen richtet und auf diese Weise die Komplexität des Gegenstands reduziert (Lernen „über“ Demokratie und Menschenrechte).

Die Lehrperson

  • kann entscheiden, auf welche Dimension des Politischen sie sich konzentrieren will, indem sie anhand eines – zumeist realen – Fallbeispiels für die Lernenden verständlich macht, wie das System der politischen Institutionen funktioniert, wie politische Entscheidungen getroffen werden oder was ein politisches Problem ist und wie es gelöst werden kann58;
  • kann den Lernenden in einem Lehrgang Aufgaben zum gewählten Schwerpunkt stellen und durch ergänzende Informationen für den Überblick sorgen (Kombination von Vertiefung und Orientierung).
  • kann aus dem Fallbeispiel ein Entscheidungsspiel machen, bei dem die Lernenden verschiedene Rollen spielen und eine Lösung aushandeln, eine Fallanalyse oder ein Projekt, in dem die Lernenden sich den Gegenstand selbst erarbeiten.
  • schärft ihren Blick für geeignetes Material zu aktuellen politischen Auseinandersetzungen und Problemen in den Medien (professionelle Kompetenz).
  • Die Schülerinnen und Schüler
  • trainieren die Kompetenz, Informationen zu politischen Problemen, Entscheidungsprozessen und Institutionen zu verarbeiten;
  • trainieren in offenen Lernformen (Fallanalyse, Projekt) Informationen auszuwählen und Informationsquellen kritisch zu beurteilen;
  • lernen Leitfragen für ihre Analyse zu stellen;
  • lernen, mit einem komplexen Gegenstand umzugehen, indem sie sich jeweils auf ausgewählte Aspekte konzentrieren und ihn aus verschiedenen Perspektivenanalysieren.

Die Grenzen des dreidimensionalen Modells: Lernen „über“ Demokratie

Das dreidimensionale Modell des Politischen kann viel leisten, indem es die komplexe Realität vereinfacht und ihr eine Struktur gibt. Die Lehrperson und die Lernenden sollten sich bewusst sein, dass sie es mit einem Konstrukt zu tun haben, das sie nicht mit der Realität verwechseln dürfen. Auch eine Straßenkarte ist ein Modell, und ganz offensichtlich entspricht es nicht der Landschaft mit ihren Bewohnern, sondern liefert nur jene Informationen, die wir brauchen, um von A nach B zu kommen. Ein Modell blendet Teile der Realität aus, um andere dafür besser fassbar zu machen.

Beim dreidimensionalen Politikmodell verhält es sich nicht anders. Die Auftrennung des Politischen in drei Dimensionen kann den Blick dafür verstellen, dass sie in der Realität stets zusammenhängen. Politische Akteure sind ohne ihre Interessen nicht denkbar, und ihre Form der Auseinandersetzung lässt sich nicht lösen vom demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnungsrahmen.

Wie oben schon angemerkt, liefert das Modell eine Struktur und Orientierung für das Lehren und Lernen „über“ Demokratie und Menschenrechte – nicht mehr und nicht weniger. Was in diesem Modell beispielsweise ausgeblendet wird, ist die kulturelle und historische Dimension. Die Institutionen sind in diesem Modell einfach da, und die Akteure befolgen scheinbar widerspruchslos die immer gleichen Spielregeln.

Die kulturelle Dimension bedeutet, dass demokratische Institutionen auf die Wertschätzung ihrer Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist, und mehr noch, auf eine Zivilgesellschaft, die ihre Konflikte gewaltfrei löst und ihre Mitglieder Verantwortung für einander und „das Ganze“ (z.B. den Schutz der natürlichen Umwelt) übernehmen. Auf politische Kultur der Zivilgesellschaft ist jede Demokratie angewiesen, ohne sie „von oben“ herstellen zu können. EDC/HRE geht über die klassische politische Bildung insofern hinaus, als es das Lehren und Lernen „über“ Demokratie und Menschenrechte um die kulturelle Dimension in Politik und Zivilgesellschaft erweitert – Lehren und Lernen „durch“ Demokratie und Menschenrechte.

Das dreidimensionale Politikmodell setzt voraus, dass Bürgerinnen und Bürger politisch aktiv werden, also im Fallbeispiel für das Gemeindeparlament kandidieren oder als betroffene Eltern ihren Protest in die Öffentlichkeit tragen. Es fragt jedoch nicht nach dem Motiven und Kompetenzen, die solch ein politisches Engagement voraussetzt. Die dritte, handlungsorientiert didaktische Dimension von EDC/HRE Lehren und Lernen „für“ Demokratie und Menschen – fokussiert auf die Teilhabeerfahrungen der Schülerinnen und Schüler im Schulleben und ihrem Alltag und ihre Befähigung und Motivation zur Teilhabe in Politik und Gesellschaft. Somit überwindet EDC/HRE den blinden Fleck des dreidimensionalen Modells, der politische Teilhabe als gegeben voraussetzt.

Aus historischer Perspektive wird deutlich, dass Demokratie und Menschenrechte prekäre Projekte sind, die mühsam und unter großen Opfern erkämpft wurden und deren Bestand keineswegs auf Dauer gesichert ist. Populistische Parteien z.B. nehmen demokratische Teilhaberechte wahr, bekämpfen aber die gleichberechtigte Teilhabe aller Mitglieder in einer pluralistischen Gesellschaft. Sie bieten der Gesellschaft eine autoritäre, nationalistische Alternative an, die Menschen- und Bürger-rechte sowie demokratische Teilhabe vielleicht nicht abschaffen, wohl aber nicht mehr für alle gelten lassen will.

Lernen „über“ bzw. „für“ Demokratie und Menschenrechte ist zunächst durch persönliche Erfahrung der Lernenden vermittelt (soziales Lernen). Politisch bedeutsam werden diese Lernerfahrungen durch die Reflexion in der Klassengemeinschaft. Dazu gehört dann auch, sich in EDC/HRE mit den Gegnern und Feinden von Demokratie und Menschenrechten auseinander zu setzen.

56. Dazu ausführlicher Ackermann, Paul u. a. (Hrsg.; 2013): Politikdidaktik kurzgefasst. Planungsfragen für den Politikunterricht. 3. Aufl., Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 38 ff.
57. Vgl. Gagel, W. (2000): Einführung in die Didaktik des politischen Unterrichts. 2. Aufl. Opladen: Leske + Budrich, S. 93 ff.
58. Die Lehrperson sollte im Laufe der Zeit darauf achten, die didaktische Perspektive zu wechseln.