Methode 3: Moderation von Plenumssitzungen (Diskussionen und kritisches Denken) in EDC/HRE

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Die Lernenden tauschen ihre Gedanken und Ideen aus, und die Lehrperson moderiert das Gespräch. Das ist alles. Ein einfaches Lernarrangement, das nicht mehr als eine Wandtafel oder ein Flipchart benötigt. Die Aufgabe der Lehrperson ist jedoch anspruchsvoll. Platons „Sokratische Dialoge” belegen die lange Tradition dieser Methode, bei der es Sokrates um die Problematisierung und Dekonstruktion falscher oder dogmatischer Vorstellungen seiner Gesprächspartner ging. Der Lehrperson empfehlen wir allerdings eine modifizierte Rolle, die sich besser für EDC/HRE eignet: Die Lehrperson unterstützt das Gespräch und agiert als Coach. Das Ziel der Kompetenzentwicklung – Schülerinnen und Schüler lernen zu denken und ihre Gedanken auszutauschen – ist ebenso wichtig wie der Inhalt der Diskussion.

In einer Klassen- oder Gruppendiskussion werden die Lernenden in einen Prozess kritischen Denkens und interaktiven konstruktivistischen Lernens eingebunden. Die Lehrperson unterstützt sie darin. Die Anstrengung des Denkens verlangt von den Lernenden, das Konkrete mit dem Abstrakten zu verknüpfen, und diese Denkarbeit wird in der Diskussion geschult. Denken benötigt Zeit, und gründliche Lernende sind oft auch langsame Denker.

Nur die Schule kann solche angeleiteten Diskussionsrunden als Lernformat anbieten. Wie der Lehrervortrag kann auch diese Unterrichtsform genau auf die Bedürfnisse und Voraussetzungen der Lernenden zugeschnitten werden, und zwar viel besser als ein Schulbuch oder ein Video.

Die Kritikerinnen verweisen zu Recht auch auf die Fehlformen der Klassendiskussion: sie wird zu häufig eingesetzt und dauert zu lange. Die Lehrperson stellt Fragen, die die Lernenden nicht interessieren die sie nicht beantworten können. Im schlimmsten Falle veranstaltet die Lehrperson eine Karikatur des sokratisches Gesprächs, in dem eine Kette enger Lehrerfragen die Lernenden zu Stichwortgebern degradiert (Erarbeitungsmuster, „Ausfrageunterricht“).

Bei wohlüberlegtem Einsatz und mit etwas Übung können sich Diskussionen jedoch als eines der wirkungsvollsten, flexibelsten und auch unverzichtbaren Lernformate für EDC/HRE erweisen. Die folgende Checkliste umreißt das Lernpotenzial der Diskussion und enthält Tipps, was man als Lehrperson tun bzw. vermeiden sollte. Da die Bände II–V der vorliegenden EDC/HRE-Reihe zahlreiche inhaltliche Anregungen für Diskussionen enthalten, die mit Lernenden von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II durchgeführt werden können, verzichten wir im vorliegenden Band auf weitere Beispiele.

Die Rolle der Lernenden

Die Lernenden

  • bringen bereits auf je ihrem Niveau ein Vorwissen mit und sind am Thema interessiert;
  • wissen, dass ihr Beitrag willkommen ist und dass ihre Ideen und Impulse nicht als „richtig“ oder „falsch“ bewertet oder benotet werden;
  • nutzen den Löwenanteil der Redezeit
  • haben unterschiedliche Lernbedürfnisse und Voraussetzungen (z.B. „langsame Denker“ – „Dauermelder“).

Die Rolle der Lehrperson

Die Lehrperson

  • kommuniziert mit der Klasse und ist fähig und bereit zu improvisieren, um auf Schülerbeiträge zu reagieren;
  • kennt den Inhalt und das Ziel des Sequenz;
  • moderiert und kontrolliert die Diskussion, ohne sie aber zu dominieren, und hat nur einen geringen Redeanteil;
  • lässt den Lernenden genügend Zeit zum Nachdenken;
  • hört zu ohne Notizen zu machen;
  • hört aktiv zu und gibt Impulse, um Schülerbeiträge zu vertiefen und intensiv zu verwerten;
  • ermuntert die Lernenden zur Teilnahme und spricht die zurückhaltenden oder schweigenden Schülerinnen und Schüler an;
  • agiert in der Rolle des Zeit-, Gruppen- und Prozessmanagers;
  • strukturiert die Diskussion, indem sie an der Wandtafel, einem Flipchart oder einem Tablet Visualisierungen, Symbole, Beispiele, Informationen, Konzepte oder Zusammenhänge festhält;
  • erkennt die Lernbedürfnisse der Schüler und reagiert auf sie. Die Lehrperson klärt über Unbekanntes auf und sorgt dafür, dass falsche oder unvollständige Argumente oder Gedankengänge von den Lernenden oder der Lehrperson dekonstruiert und korrigiert werden.

Geeignete Diskussionsanlässe in EDC/HRE

  • Schülerimpulse und -beiträge verarbeiten (Fragen, Kommentare, Präsentationen, Hausaufgaben, Erfahrungen und Gefühle);
  • Lehrerimpulse verarbeiten (Frage, Impulse, Bild, Lehrvortrag);
  • Aktuelle, kontroverse, problemhaltige Situationen, Entscheidungen, Maßnahmen oder Ereignisse
  • Einführung eines neuen Konzepts in EDC/HRE;
  • Auswertung einer Lese- oder Rechercheaufgabe;
  • Auswertung einer Phase des handlungs- bzw. problemorientierten Lernens (Feedback, Reflexion);
  • Feedback;
  • Entwicklung einer Hypothese in fragendforschenden Lernprozessen.

Lernpotenzial

Die Lernenden

  • schaffen den Kontext für ein neues Konzept, das ihnen die Lehrperson durch Instruktion vermittelt (induktives Lernen, Abstraktion, Konstruktion und Instruktion);
  • Diskussionen und Lehrgespräche demonstrieren den Denkprozess: Fragen stellen, Antworten sorgfältig prüfen, vom Konkreten abstrahieren und umgekehrt vom Allgemeinen auf das Besondere schließen. Die Demonstration analytischen Denkens und kritischer Urteilsbildung unterstützt die Kompetenzentwicklung der Lernenden.
  • legen die Wahl ihrer Urteilskriterien und legen sie offen. (Entwicklung der Urteilskompetenz, interaktives konstruktivistisches Lernen);
  • erfahren ihre Klasse als Mikrogesellschaft, in der Gedanken- und Meinungsfreiheit praktiziert werden und die Teilhabe aller gefördert und begrüßt wird (Demokratie und Menschenrechte als Unterrichtsprinzip);
  • werden als Experten angesprochen (Stärkung des Selbstwertgefühls);
  • fällen ihr Urteil erst, nachdem sie in einer politischen Kontroverse die unterschiedlichen Positionen kennen und geprüft haben (Modellierung des politischen Entscheidungsprozesses).

Vorbereitung

Kriterien zur Auswahl eines Diskussionsthemas

  • Die Lernenden müssen über Kenntnisse zum Thema verfügen, um nicht in die Rolle von Unwissenden versetzt zu werden.
  • Für die Lernenden ist das Thema interessant und diskussionswürdig (Relevanz, persönliches Interesse bzw. Betroffenheit).
  • Kontroversität: Das Thema wirft ein Problem auf und ermöglicht es den Lernenden, gegensätzliche Positionen zu vertreten; auch die Lehrperson hat ihre Position, verfügt jedoch nicht über die Deutungshoheit.
  • Problemorientierung: Die Diskussion setzt sich mit einem politischen Problem auseinander. Es betrifft die Allgemeinheit, es ist dringlich – d.h. es besteht Handlungsbedarf –, und der Lösungsweg ist unbekannt (Walter Gagel). Auch eine Dilemmadiskussion ist möglich.

Vorbereitung der Lehrperson auf die Diskussion

  • Die Lehrperson versucht die Argumente der Lernenden zu antizipieren und prüft, wie sie sich strukturieren lassen, z.B. unter Pro und Kontra, oder Kriterien wie Gerechtigkeit und Effizienz, konkret und abstrakt, Interessen und Kompromisse. Ein derartiges Argumentations-raster erleichtert es der Lehrperson, der Schülerdiskussion eine Struktur zu geben und auf unerwartete Schülerbeiträge angemessen zu reagieren. Flipchart, Tafel oder Beamer sind erforderlich
  • Falls die Diskussion nicht von einem Schülerbeitrag ausgeht, bereitet die Lehrperson einen Einstieg vor. Dieser sollte wenig Zeit beanspruchen, z.B. ein Impuls, eine offene Frage oder ein Stichwort.
  • Die Lehrperson entwirft eine Zusammenfassung der Diskussion – beispielsweise in Form eines Schaubilds zu einem neuen Konzept, einer These oder einer Reihe von Stichworten, welche die Lernenden dann als Transferaufgabe z.B. zu einem Protokoll oder zur Begründung ihres Urteils ausarbeiten.

Einige Tipps

  • Wenn Sie einen Impuls geben oder eine Frage stellen, lassen Sie den Lernenden genügend Zeit zum Nachdenken. Warten Sie 10 – 20 Sekunden, und rufen Sie nicht den Schüler auf, der sich als erster meldet. Erteilen Sie dann mehreren Lernenden der Reihe nach das Wort.
  • Varianten (die zwar mehr Zeit erfordern, die Qualität der Beiträge aber erheblich verbessern):
  • Beschränken Sie sich auf einen Impuls oder eine Frage.
    • Geben Sie den Lernenden Zeit, ihre Gedanken schriftlich zu formulieren, und erteilen Sie ihnen danach das Wort. Die Lernenden tragen ihre Aussage vor oder arbeiten mit Papierstreifen. Diese lassen sich an der Tafel, einem Flipchart oder auch auf dem Boden gruppieren und strukturieren.
    • Lassen Sie die Lernenden ihre Überlegungen zuerst in einer „Murmelphase” zu zweit oder dritt austauschen und anschließend die Ergebnisse präsentieren.
  • Grundregel: „Ein Beitrag der Lehrperson – viele Schülerbeiträge.” Mehr ist in vielen Fällen nicht erforderlich – und in der verfügbaren Zeit oft auch nicht möglich –, um eine lebendige Diskussion anzustoßen – ausgehend von einem Lehrerimpuls, jedoch nicht lehrerzentriert. Die Lehrperson fasst die Diskussion zusammen oder stellt den Lernenden eine Aufgabe zur Ergebnissicherung.
  • Sorgen Sie für eine Sitzordnung, bei der sich alle Schüler sehen und ansprechen können (z.B. Hufeisen oder Stuhlkreis).
  • Stellen Sie sicher, dass sich die Schüler verstehen. Fordern Sie sie auf, ihre Ideen zu begründen oder Begriffe zu erklären, die nicht alle kennen.

Fallstricke in der Moderation

  • Stellen Sie keine Ja-Nein-Fragen, da diese in Kettenfragen münden und die Lernenden zu Stichwortgebern degradieren. Gestalten Sie den Einstieg in eine Diskussion mit einer offenen Frage, einem Impuls oder Stichwort. Mit einer enger gefassten Anschlussfrage können Sie auf die Schülerbeiträge reagieren.
  • Lassen Sie sich nicht auf Diskussionen mit einzelnen Lernenden ein. Geben Sie deren Fragen oder Einwände an die ganze Klasse weiter.
  • Weichen Sie Äußerungen von Lernenden, auf die Sie nicht vorbereitet waren, nicht aus und ignorieren sie diese nicht. Es könnte sich dabei um die interessantesten Beiträge handeln! Beziehen Sie die Klasse ein, zu einem solchen Beitrag Stellung zu nehmen. Fall Sie eine Schülerfrage nicht beantworten können, stehen Sie zu Ihren Wissenslücken (Vorbildfunktion) und klären Sie, wie und von wem sie beantwortet wird (z.B. Internet-Recherche sofort oder bis zur nächsten Sequenz).
  • Kein Lehrerecho. Sie verbrauchen mehr als die halbe Redezeit, wenn Sie jeden Schülerbeitrag wiederholen, kommentieren oder gar bewerten. Falls eine Schülerin oder ein Schüler ein besonders starkes oder schwaches Argument formuliert hat, können Sie die Klasse auffordern, sich mit diesem Beitrag zu beschäftigen.
  • Die Moderation erschöpft sich nicht im Abhaken der Rednerliste. Oft bezieht sich eine Rednerin auf einen bereits länger zurück liegenden Beitrag, so dass die Diskussion in mehrere Stränge zu zerfallen droht und die Lernenden die Übersicht und den roten Faden verlieren. Geben Sie der Diskussion eine Struktur (Tafel oder Flipchart), indem Sie die Lernenden auf die verschiedenen Aspekte aufmerksam machen, die sie thematisiert haben. Wenn Sie die Rednerliste z.B. an der Tafel führen, können Sie die Meldungen den Themen zuordnen. Entscheiden Sie gemeinsam mit den Lernenden, in welcher Reihenfolge die Themen diskutiert werden bzw. auf welche die Klasse sich beschränken muss (Konzentration, verfügbare Zeit). Die Strukturierung dient zugleich der Ergebnissicherung.

Improvisation als professionelle Kompetenz der Lehrperson: Ein Schülerimpuls löst eine Diskussion aus

Bis jetzt war nur von Diskussionen die Rede, welche die Lehrperson für eine EDC/HRE-Sequenz geplant und vorbereitet hat.
Es kommt aber auch vor, dass die Schülerinnen spontan eine Diskussion anstoßen, z.B. durch eine Beobachtung oder einen Kommentar, die zu einer Kontroverse in der Klasse führen. Wenn irgend möglich, sollte die Lehrpersonen den Lernenden die Gelegenheit geben, solche spontanen Diskussionen zu führen. Sie entsprechen einem offensichtlichen Lernbedürfnis und zeigen, dass die Lernenden oder mindestens einige unter ihnen sich für das Problem interessieren.

Beispiele aus der EDC/HRE-Praxis:

  • „Eigentlich kann man sich nur auf die Familie verlassen.”
  • „Ich finde, dass die Todesstrafe für gewisse Personen gerechtfertigt ist.”
  • „Ich finde, Politiker, die ihre Wahlversprechen nicht einhalten, sollten bestraft werden.”
  • „Wir Jugendliche haben in der Politik nichts zu sagen, unsere Meinung interessiert niemanden.“
  • Eine Schülerin spricht ein aktuelle Nachricht aus den Medien an.

In solchen Fällen stellen die Lernenden der Lehrperson eine Aufgabe, nicht umgekehrt. Die Lehrperson ist aufgefordert, die Diskussion unvorbereitet und improvisiert zu moderieren. Die Lehrperson braucht eine solche Diskussion nicht zu scheuen. In den meisten Fällen wird sie mit dem Thema vertraut sein, und sind die Interaktionsmuster die gleichen wie in jeder Plenumsdiskussion. Eine ähnliche Situation entsteht, wenn ein Schüler die Lehrperson ungewollt mit einer Frage konfrontiert, die einen unvorbereiteten Kurzvortrag erfordert, z.B. „Was bedeutet Demokratie?”.

Die folgenden Tipps helfen, in einer spontanen Diskussion angemessen zu agieren:

  • Bitten Sie die Schülerin, welche die Diskussion angeregt hat, ihre Bemerkung oder Frage näher zu erläutern. Die Klasse versteht den Impuls besser, und Sie gewinnen Zeit zum Nachdenken.
  • Beteiligen Sie die Lernenden an der Anpassung der Unterrichtsplanung.
    • Entscheiden oder klären Sie mit der Klasse, wie viel Zeit für die Diskussion zur Verfügung steht.
    • Entscheiden oder klären Sie mit der Klasse, wie Sie mit dem Thema, das durch die Diskussion unterbrochen wurde, weiter verfahren wollen.
  • Wenn Sie Ihren Schülern zuhören, achten Sie darauf, was diese wissen und verstanden bzw. nicht verstanden haben.
  • Fassen Sie die Diskussion abschließend zusammen. Ein improvisiertes Schlusswort zum Anstoß und Ergebnis mag nicht von gleicher Qualität sein wie ein vorbereitetes, doch es dient den Lernenden allemal mehr als ein kommentarloser Abbruch der Diskussion.
  • Sie können auch den Lernenden die Anschlussaufgabe (Hausaufgabe) stellen, die Diskussion zusammen zu fassen oder zu bewerten, wenn Sie diese Aufgabe für lösbar halten und Sie eine weitere Sequenz für das Diskussionsthema einsetzen wollen. Zu Beginn der folgenden Sequenz stellen die Lernenden dann ihre Ergebnisse vor, die damit zum Gegenstand der weiteren Arbeit werden.