8. «Das bedeutet also, dass ich das Recht auf eine Pause habe, oder?» Eine kleine Geschichte aus dem Klassenzimmer
Living Democracy » Textbooks » Kinderrechte erkunden » Teil II: Hintergrundinformationen » 8. «Das bedeutet also, dass ich das Recht auf eine Pause habe, oder?» Eine kleine Geschichte aus dem KlassenzimmerDie Lehrerin Sadina Siercic hat das Zimmer sorgfältig vorbereitet. Die Kinder sitzen in Gruppen zusammen. Ihre Pulte dienen als Gruppentische. Auf jedem Tisch liegen grosse Briefumschläge. An einem der Tische sitzen die Hasen, an einem anderen die Bären und am dritten die Tiger. Ein furchtbar aufgeregter Hasenjunge darf als erster den Briefumschlag auf seinem Tisch öffnen. Die Lehrerin bittet den Achtjährigen, den Text laut vorzulesen.
Der Hase liest «Kinder haben ein Recht auf die bestmögliche medizinische Versorgung» und setzt sich wieder hin. «Es steht auch eine Nummer da», sagt die Lehrerin. «Wir machen zwar kein Rechnen, aber die Nummer ist wichtig!». Der Hase stellt sich wieder folgsam auf seine Hinterbeine und liest: «Artikel 24». Die Lehrerin ist zufrieden. Der Hase stellt sich an die Tafel vor die Klasse. Sein Artikel steht auf einem bunten Stück Papier, das die Form eines Ballons hat. Er darf den Ballon an die Tafel heften.
An der Tafel ist Platz für ganz viele Ballone. Zusammen werden die Kinder einen Korb, der die Aufschrift «Kinderrechte» trägt mit der Hilfe vieler Ballone fliegen lassen. Die Lehrerin legt den Arm um den Hasen und ist so glücklich wie er. «Das ist eines eurer Rechte», sagt sie zu den Kindern und fährt fort: «In allen euren Briefumschlägen sind noch mehr davon. Jedes Recht ist ein Ballon.» Die Kinder haben verstanden. Jetzt schnellen ganz viele Hände in die Höhe. Sie können es kaum erwarten, einen Umschlag zu öffnen, zu lesen, nach vorn zu kommen, den Ballon an die Tafel zu heften, sich loben und den Korb fliegen zu lassen.
Das geht eine gute halbe Stunde so weiter. Eben sind die Bären dran, um genauer zu sein: ein kleines Bärenmädchen. Es hat Artikel 30 vor sich liegen und liest vor: «Kinder, die zu einer Minderheit gehören, haben das Recht, ihre eigene Kultur zu leben, ihre eigene Religion auszuüben und ihre eigene Sprache zu sprechen.» Und vom Tisch nebenan fügt ein Tiger hinzu: «Kinder haben das Recht auf Ruhe und Freizeit, auf Spielen, Kultur und Kunst. Das ist Artikel 31.».
Die Stimmung bei den Drittklässlern ist fröhlich, enthusiastisch und aktiv. Es ist viel Bewegung und Geflüster in der Klasse und jedes will, dass alle zuhören.
Ist das guter Unterricht? Ist das eine gute Lektion über Kinderrechte? Wie relevant ist dieser Unterricht für die anwesenden Schülerinnen und Schüler und deren Kompetenzen? Vielleicht müsste ich ein wichtiges Detail erwähnen. Diesen Unterricht habe ich vor etwa 10 Jahren in Gorazde beobachtet. Gorazde ist eine ostbosnische Kleinstadt, die von der Umwelt abgeschlossen, isoliert und während des Krieges fast vergessen worden ist, und die kurz davor stand, dasselbe Schicksal wie Srebrenica zu erlangen und ethnisch gesäubert zu werden. Vor diesem Hintergrund und nur wenige Jahre nach dem Friedensschluss von Dayton war es für Schülerinnen und Schüler aber vor allem für die Lehrperson eine sicher aufregende, aber keineswegs leichte Aufgabe, Themen wie Religionsfreiheit und Schutz von Minderheiten in der Schule zu besprechen. Wir kehren nochmals in die Lektion zurück. Gegen Schluss der Unterrichtsstunde, fragt die Lehrerin ihre dritte Klasse, was sie denn jetzt gelernt hätten. Ein vorwitziges Hasenmädchen streckt seine Hand auf und bemerkt: «Nun weiss ich: Artikel 31 schreibt vor, dass ich das Recht auf Erholung und Freizeit habe. Das heisst, ich das Recht auf eine Pause habe, oder? Und jetzt bin ich müde und brauche eine Pause!» Die ganze Klasse beginnt zu lachen. Die Lehrerin lacht zuerst auch, schaut dann aber nachdenklich in die Runde.
Was war da geschehen? Und wie ging es weiter? Nun, diese Lehrerin stand vor einer grossen Schwierigkeit: Die Schülerin hatte ihre Lektion gelernt und hat den spannenden Versuch gemacht, einen Artikel der Kinderrechtskonvention in den Alltag hinein zu nehmen. Ich konnte nicht in den Kopf dieser Lehrerin hineinschauen, konnte nur erahnen, wie schwierig die Situation für sie jetzt war. Zudem hatte ich selbst genug zu denken: Ist das so gedacht, mit dieser Konvention, die doch zuerst einmal ein juristisches Instrument ist? Soll das möglich sein, dass getreu dem konstruktivistischen Lernparadigma jede und jeder sich eine eigene Interpretation bastelt? Was geschieht im Klassenzimmer, wenn wir dieses Denken zulassen? Sadina Siercic, die Drittklasslehrerin aus Ostbosnien hatte in diesem Moment die Zeit nicht, komplexe juristische oder gesellschaftsrelevante Gedanken abzuwägen. Sie hatte sich aufs Glatteis begeben und wusste wahrscheinlich sehr genau, dass jetzt ein entscheidender Punkt erreicht war: jetzt würde sie für viele Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse einen Meilenstein setzen. So oder so. Jetzt würde sie darüber entscheiden, ob die Kinderrechte eine fröhliche Ballonstunde bleiben wird – ohne Auswirkungen auf das alltäglich Denken – oder ob hier in Ostbosnien, in dieser morgendlichen Frühsommerstunde Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts das stattfindet, was wir uns alle wünschen: Eine echte Auseinandersetzung mit einem der wohl bedeutendsten Abkommen das in den letzten 25 Jahren weltweit ratifiziert worden ist – eine Auseinadersetzung mit der Kinderrechtskonvention. Sadina Siercic reagierte folgendermassen. Sie schaute zuerst die die Klasse und dann zum Mädchen und meinte: „Ja, du hast Recht. Ja, es gibt diesen Artikel 31. Und der garantiert dir und allen anderen Kindern Erholung und Ausgleich. Das bedeutet, dass ich mir sehr genau überlegen muss, wie viele Hausaufgaben ich dir und allen anderen geben soll. Ich muss mir überlegen, ob es richtig ist, dass jene Schülerinnen und Schüler, die während des Unterrichtes alles erledigen können, zu Hause nichts mehr zu tun haben, und jene, die langsamer vielleicht auch sorgfältiger sind, zu Hause mehr zu tun und weniger Erholungszeit haben. Ja, solche Dinge muss ich mir überlegen, wenn ich den Artikel 31 der Kinderrechtskonvention kenne.“ Damit war Sadina Siercic aber noch nicht fertig. Sie fuhr weiter: „Ich muss dir aber auch etwas anderes dazu sagen. Du kennst jetzt auch den Artikel 28. Und der garantiert dir dein Recht auf Bildung. Und jetzt ist für dich und alle deine Kameraden bis zur Pause noch Bildungszeit.“
Die Klasse war jetzt still und die Schülerin nicht wirklich zufrieden mit dieser Antwort. Das konnte man sehen. Das musste sie wohl auch nicht sein. Was war geschehen an diesem Maimorgen ist Ostbosnien? Eine acht jährige Schülerin hat eine international gültige Konvention, die von ihrem Land ratifiziert und damit zu staatlichem Recht geworden war zu verstehen versucht. Aber noch viel mehr: sie hat versucht, die Konvention in ihr Leben, in ihren Alltag einzubauen und dort sogar anzuwenden. Sie hat eine Interpretation versucht und das am richtigen Ort gemacht, ist doch die Schule für diese Schülerin jener Ort, an dem sie ganz direkt mit ihrem Staat in Kontakt tritt. An diesem Ort entscheidet es sich, wie sie diesem Staat und der Staatsvertreterin begegnet und wie ihr begegnet wird.
Und die Lehrerin? Diese Lehrerin hat sich auf Augenhöhe mit ihrer Schülerin begeben. Sie hat das zugelassen, was wir ‚Empowerment’ nennen und hat gleichzeitig versucht, angemessen zu reagieren. Sadina Siercic aus Gorazde hat mit ihrer Klasse und ganz speziell mit dieser Schülerin den Anfang eines langen Weges beschritten. Sie hat – mehr oder weniger verständlich für eine Achtjährige – gezeigt, dass in der Kinderrechtskonvention Artikel stehen, die sich gegenseitig konkurrenzieren, Artikel, die sich zwar nicht ausschliessen aber die es in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu verstehen gilt. In dieser Klasse an diesem Vormittag jedenfalls ist die Kinderrechtskonvention zu einem Instrument geworden, das es nicht einfach kennen zu lernen gilt, sondern das für alle Beteiligten ein handlungsleitendes Wertesystem sein soll, das hilft, das eigene Handeln in einen grösseren Zusammenhang zu stellen.