Einführung

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1. Was hat dieses Buch zu bieten?

Dieses Handbuch richtet sich an Lehrpersonen, Lehrerbildnerinnen, Lehrplanentwickler, Lehrmittelherausgeberinnen und Übersetzer in den Mitgliederstaaten des Europarates. Es steht ihnen für Übersetzungen zur Verfügung und darf den Anforderungen der jeweiligen Bildungssysteme angepasst werden.

Das Buch enthält neun Unterrichtseinheiten zu Demokratie- und Menschenrechtsbildung. Die Einheiten, die sich aus je vier Sequenzen zusammensetzen, sind für Lernende der Sekundarstufe I gedacht. Jede Einheit befasst sich mit einem Basiskonzept der Demokratie- oder Menschenrechtsbildung: Identität – Verantwortung – Pluralismus und Vielfalt – Konflikt – Gesetze und Recht– Macht und Entscheidung – Gleichberechtigung – Recht und Freiheit – Medien.

Für jede Sequenz schlagen wir Unterrichtsschritte vor, die wir detailliert beschreiben, soweit dies möglich und sinnvoll ist. Im Anhang zu jeder Einheit finden sich Handouts für die Lernenden, um die Lehrperson zu unterstützen. Dieser Band richtet sich daher an Lehrpersonen, nicht an Lernende.

Unsere Erfahrungen in der Ausbildung von Lehrpersonen haben gezeigt, dass vor allem Praktikantinnen und Berufseinsteiger detaillierte Ausarbeitungen von Sequenzen schätzen. Auch erfahrene Lehrpersonen könnten Ideen und Materialien in diesem Buch entdecken, die sie für ihren Unterricht nutzen können. In der Aus- und –Fortbildung für Lehrpersonen kann dieser Band als Handbuch für Demokratie- und Menschenrechtsbildung verwendet werden.

Die erste Ausgabe dieses Handbuchs entstand 2002, um die Einführung neuen Schulfaches – Demokratie- und Menschenrechtsbildung – in Bosnien-Herzegowina zu unterstützen. Beide gingen hervor aus der Initiative des Europarats, den Friedensprozess nach dem Krieg zu unterstützen. Seit 1996 engagierte sich der Europarat Ausbildung von Lehrpersonen und Lehrerbildnerinnen in Demokratie- und Menschrechtsbildung. Die Herausgeber und Autoren und Autorinnen der ersten Ausgabe des vorliegenden Handbuchs gehörten dem internationalen Expertenteam an, das an diesem Projekt teilnahm. Wir führten Fortbildungen für Lehrpersonen und Lehrerbildner durch und entwickelten Materialien für die Lehrerausbildung und für die Schulen, darunter auch den ersten Entwurf dieses Handbuchs1. Die Erfahrungen aus dem praktischen Einsatz der ersten Fassung sind in der vorliegenden Ausgabe berücksichtigt.

2. Welche Ansatz vertritt EDC/HRE2?

Die Grundprinzipien der Demokratie- und Menschenrechtsbildung können am besten an einem Beispiel veranschaulicht werden. Die Meinungs- und Gedankenfreiheit3 ist ein Grundrecht demokratischer Teilhabe. In der Demokratie- und Menschenrechtsbildung sollen die Lernenden das Recht der freien Meinungsäußerung kennen, verstehen und schätzen lernen und sie sollten wissen, wie dieses Recht von der Verfassung ihres Staates geschützt wird. Damit ist die kognitive Dimension des Lernens umrissen: Wissen und Verstehen.

Um an einem demokratischen Gemeinwesen teilzuhaben, ist es unerlässlich vom Grundrecht der Meinungs- und Gedankenfreiheit Gebrauch zu machen. Die Lernenden müssen daher in der Schule die Kompetenz erwerben und trainieren, in der Öffentlichkeit zu diskutieren und zu streiten (Dimension instrumentellen und kompetenzorientierten Lernens).

Und drittens kommt die kulturelle Dimension des Lernens in EDC/HRE hinzu. Die Meinungs- und Gedankenfreiheit ist neben anderen Freiheitsrechten die Voraussetzung für die Entfaltung einer offenen, pluralistischen Gesellschaft. Die Vielfalt der Interessen, Meinungen, Ideen und Lebensentwürfe äußert sich in Kontroversen und Interessenkonflikten. Wer seine Meinung und Interessen äußert, wird Zustimmung und Unterstützung, aber auch Widerspruch und Widerstand erfahren. Die Lernenden müssen verstehen, dass Konflikte zur Realität einer freien Gesellschaft gehören, und sie müssen sie aushalten können. In einem demokratischen Gemeinwesen ist der politische Streit institutionalisiert in einem geregelten Verfahren. Die pluralistische Gesellschaft lebt von einer Streitkultur, die weitgehend informell ist, d.h. auf weithin ungeschriebenen Regeln beruht, die von den Mitgliedern anerkannt werden. Auch die Institutionen des demokratischen politischen Systems können nur auf Dauer bestehen, wenn sie in eine politische Kultur eingebettet sind, die sie mit Leben erfüllen. EDC/HRE spielt eine Schlüsselrolle, um junge Menschen mit der politischen Kultur vertraut zu machen, ohne die eine Demokratie auf Dauer nicht funktionieren kann.

Zur politischen Kultur der Demokratie gehört, im Streit zwischen der Person und der Sache zu unterscheiden. In der Sache brauchen wir uns mit unseren Argumenten nicht zu schonen, doch wir müssen uns als Personen respektieren und anerkennen. Der zivilisatorische Fortschritt der Demokratie besteht darin, dass ihre Mitglieder sich nicht als Feinde betrachten, sondern allenfalls als Konkurrenten. Des weiteren sollten wir anerkennen, dass niemand die absolute Deutungshoheit in einer Sachfrage besitzt. Wir alle können uns irren, und unser Wissen ist stets begrenzt. Widerspruch mag zwar anstrengend sein, doch wir sollten offen dafür sein, dass er berechtigt sein könnte.

Moderne Gesellschaften haben es laufend mit Problemen zu tun, für die niemand die Lösung kennt. Für die kollektiven Lernprozesse, die solche Probleme verlangen, sind demokratische Gesellschaften besser gerüstet als jene, in denen Autokraten oder Diktatoren die freie Meinungsäußerung als Bedrohung ihres absoluten Machtanspruchs unterdrücken. Bürgerinnen und Bürger, die ihr Recht auf Gedankenfreiheit und freie Meinungsäußerung in politischen Auseinandersetzungen wahrnehmen, tragen dazu bei, Probleme und Konflikte wirksam und fair zu lösen.

Das Beispiel zeigt, dass die Demokratie- und Menschenrechtsbildung einem ganzheitlichen, holistischen Ansatz folgt, der Lernprozesse in drei Dimensionen umfasst:

  • Wissen und Verstehen (kognitive Dimension),
  • Aufbau und Training von Kompetenzen,
  • Aneignung von Werten und Einstellungen.

Dieses Modell der drei Dimensionen des Lernens trifft auch auf die Bildung im Allgemeinen zu und ist sicher vielen Leserinnen und Lesern bekannt. Jede Lehrperson kennt wohl die Probleme, alle Dimensionen der Bildung zu realisieren. Das System der notenbasierten Leistungsbewertung betont die kognitive Dimension des Lernens, mit der Gefahr, EDC/HRE zu einem Schulfach wie jedes andere zu machen. Kompetenzorientierung ist in den heutigen Bildungsplänen stark verankert, erweist sich in der Praxis jedoch als zeitaufwendig und schwierig. Wertorientierung, also die „weiche“ Dimension des Lernens, findet sich durchaus auch in den Bildungsplänen, bleibt jedoch bei den Messungen und Bewertungen des Lernertrags außen vor.

Wie begegnet die Demokratie- und Menschenrechtsbildung der Herausforderung, die dieses holistische Bildungskonzept darstellt? Anders gefragt: Wenn dieses dreidimensionale Modell das Ziel des Lernens in der Demokratie- und Menschenrechtsbildung umreißt, worin besteht dann die Aufgabe der Lehrpersonen? Diese Frage versucht das vorliegende Handbuch zu beantworten.

3. An welchen Grundprinzipien orientiert sich EDC/HRE?

Demokratie- und Menschenrechtsbildung (EDC/HRE) integriert die oben skizzierten drei Dimensionen des Lernens in einem Ansatz, der das Lernen in der Klasse mit erfahrungsbezogenem Lernen verbindet. Die Grundlage dieses Konzepts bilden drei didaktische Zugänge:

  • Lernen über Demokratie und Menschenrechte
  • Lernen durch Demokratie und Menschenrechte
  • Lernen für Demokratie und Menschenrechte

Diese drei didaktischen Perspektiven der Demokratie- und Menschenrechtsbildung bilden ein zusammenhängendes Ganzes. In allem, was Lehrpersonen tun, bewegen sie sich in den drei didaktischen Perspektiven, und jeder Lernprozess bezieht diese drei Dimensionen ein, freilich in variierender Akzentuierung und Gewichtung. Im Folgenden möchten wir diese drei didaktischen Zugänge von EDC/HRE eingehender beschreiben.

Lernen über Demokratie und Menschenrechte

Diese didaktische Perspektive entspricht dem Erwerb von Kenntnissen und Einsichten in der politischen Bildung als Schulfach. Lernen über Demokratie und Menschenrechte bezeichnet die kognitive Dimension des Lernens in EDC/HRE.

Die Kenntnisse und Einsichten, welche die Lernenden in EDC/HRE erwerben sollten, lassen sich in Form von Bildungsstandards z.B. wie folgt erfassen:

  • Die Lernenden können erklären, worin sich die Demokratie von anderen Herrschaftsformen (z.B. Diktatur, Oligarchie) unterscheidet;
  • sie können die Tradition und Geschichte der Menschenrechte beschreiben,
  • sie können zeigen, wie Menschenrechte in der Verfassung ihres Staates als einklagbare Rechte verankert sind, die allen Bürgern oder Einwohnern zustehen4.

Daraus folgt, dass Demokratie- und Menschenrechtsbildung in den Lehr- und Bildungsplänen der allgemeinbildenden Schulen verankert sein muss und mit den Nachbardisziplinen wie z.B. Geschichte, Sozialwissenschaften und Wirtschaft vernetzt ist.

Lernen durch Demokratie und Menschenrechte

Lernende sollen über ihre Teilhaberechte nicht nur Bescheid wissen, sondern diese auch wahrnehmen können. Sie brauchen daher Gelegenheiten, im Schulleben praktische Erfahrungen zu sammeln und an Entscheidungsprozessen teilzunehmen, wann immer dies möglich und sinnvoll ist. In diesem Sinne müssen Lehrpersonen ihren Schülern und Schülerinnen beispielsweise die Möglichkeit bieten, ihre Meinung zu äußern – zu Inhalten und Themen des Unterrichts, zur Organisation und Konzeption des Unterrichts sowie zur Schulführung.

Aus dieser Perspektive liefert Demokratie- und Menschenrechtsbildung kein Curriculum, sondern ein pädagogisches Leitbild, das sich nicht nur an Lehrpersonen für EDC/HRE richtet, sondern an alle, die am Schulleben beteiligt sind. Junge Menschen erwerben Werte wie Toleranz und Verantwortungsbewusstsein durch Erfahrung. Daher hängt es von den Lehrpersonen ab, – und zwar in allen Fächern – ihrer Vorbildrolle gerecht zu werden. Junge Menschen müssen erleben, dass ihre Menschenwürde respektiert und geschützt wird5. Freilich reicht soziales Lernen durch Erfahrung nicht aus, um die Orientierung der Lern- und Schulkultur an Demokratie und Menschenrechten zu erfassen und mehr noch, ihren Zusammenhang mit der politischen Kultur der Demokratie. Die Lernenden müssen ihre Erfahrungen benennen und reflektieren, d.h. verstehen, warum und wozu die Schule sich an Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten orientiert. Erfahrungslernen wird erweitert um kognitives Lernen (Lernen über Demokratie und Menschenrechte). EDC/HRE lässt sich daher weder auf ein Unterrichtsfach noch auf ein pädagogisches Prinzip verkürzen, sondern integriert beide Dimensionen: Lehren und Lernen „über“ und „durch“ Demokratie und Menschenrechte.

Lernen für Demokratie und Menschenrechte

Diese didaktische Perspektive bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Erfahrungen im Schulleben und in den Lebensphasen danach. Dabei geht die Demokratie- und Menschenrechtsbildung davon aus, dass die Erfahrungen im Schulleben bedeutsam sind für die politische und allgemeine Sozialisation eines jungen Menschen. Einerseits ist die Bildung, einschließlich des Lebens in der Schule, ein Subsystem, das eigenen Regeln und Anforderungen folgt und die hier gemachten Erfahrungen sind daher nicht direkt übertragbar auf das politische und gesellschaftliche System. Andererseits ist die Schulzeit eine wichtige Phase im Leben aller Menschen in unserer Gesellschaft. Die Lernenden begegnen in der Schule Grundfragen und Problemen, die ihnen auch im Erwachsenenleben wieder begegnen, so z.B. Fragen zur Gleichstellung der Geschlechter, zur Inklusion von Menschen verschiedener ethnischer oder sozialer Herkunft, zum Umgang mit Gewalt, zur Übernahme von Verantwortung, zu ungleicher Machtverteilung und Knappheit von Ressourcen (etwa Zeit und Geld), zur Befolgung von Gesetzen oder zur Notwendigkeit von Kompromissen. Lernen für Demokratie in der Demokratie- und Menschenrechtsbildung fokussiert auf das Leben nach der Schule, und hier auf die Teilhabe in Politik und Gesellschaft. Es ist Aufgabe der Lehrpersonen aller Fächer, den Lernenden zu ermöglichen, die Kompetenzen zur Teilhabe in Politik und Gesellschaft zu erwerben und zu trainieren, z.B. die Fähigkeit, die eigene Meinung knapp und prägnant öffentlich darzulegen.

Demokratie- und Menschenrechtsbildung versteht die Schule als Ort, an dem Schülerinnen und Schüler in authentischen Erfahrungssituationen lernen können. Die Schule ist kein abgeschiedener Ort des Erwerbs von Kenntnissen und Theorien als Vorbereitung auf das Erwachsenenleben. Vielmehr soll sie als Mikro-Gemeinschaft und als Modell für die Gesellschaft als Ganzes erlebt werden können6.

Eine Schulgemeinschaft, die ihren Mitgliedern Teilhabechancen bietet, die über außerschulische Teilhaberechte hinausgehen, kann sogar zum Modell für eine bessere und demokratischere Gesellschaft werden. Lehren und Lernen „für“ bzw. „durch“ Demokratie und Menschenrechte hängen dabei eng zusammen. Das Erlernen der Teilhabe in der Schulgemeinschaft setzt voraus, dass die Kultur der Schulgemeinschaft sich an demokratischen Prinzipien, Menschen- und Kinderrechten orientiert.

Demokratie- und Menschenrechtsbildung erfordert die Berücksichtigung in Bildungsreformen, die die Schule als Ganzes in den Blick nehmen, und folglich auch Lehrpersonen und Schulleiter, Schulverwaltung und Schulaufsicht. Den Schwerpunkt des vorliegenden Handbuchs bildet Demokratie- und Menschenrechtsbildung als Schulfach. Eine Reform setzt sich aus vielen kleinen Schritten zusammen, deren Verlauf und Ergebnis je nach Land und Kontext verschieden ausfallen wird. Die ersten Schritte finden in der Klasse statt, und hier können die Lehrpersonen entscheiden, was sie bewegen und gestalten wollen. An sie richtet sich dieses Handbuch, und widmet deshalb den Fragen nach Inhalt und Methoden der Demokratie- und Menschenrechtsbildung breiten Raum.

Wie hängen Inhalte und Methoden in EDC/HRE zusammen?

Nur die Lernenden können lernen. Zum Lernen kann man sie nicht zwingen, und ihre Lernprozesse sind nicht steuerbar. Wir folgen somit einem konstruktivistischen Lernbegriff und verstehen unter Lernen einen aktiven, individuellen Aneignungs- und Verarbeitungsprozess, den Lehrpersonen unterstützt, aber nicht kontrollieren können. Um an das oben erwähnte Beispiel anzuknüpfen, können Lernende die Kompetenzen der freien Meinungsäußerung nur beherrschen, wenn sie von ihnen häufig genug Gebrauch machen können7. Lehrpersonen in allen Fächern, nicht nur in EDC/HRE, haben daher die Aufgabe, für Lernangebote und Aufgaben zu sorgen, die diesen Lernprozess ermöglichen und unterstützen, beispielsweise Schülervorträge, Diskussionen, Debatten, Essays, Gestaltung von Plakaten, Videoclips oder kreativen Objekten.

Demokratie- und Menschenrechtsbildung betont daher Methoden und Aufgabenformate, die handlungsorientiertes, interaktives und kooperatives Lernen unterstützen. Indem die Lernenden die Probleme, die mit einer bestimmten Aufgabe verbunden sind, selbst entdecken, bearbeiten und lösen, lernen sie mehr, als wenn die entsprechenden Inhalte im Frontalunterricht vermittelt würden. Zugleich erlaubt dieses Vorgehen, flexibler auf individuelle Lernbedürfnisse einzugehen. Die Einheiten im vorliegenden Handbuch zeigen, wie handlungsorientiertes Lernen mit ausgewählten Themen und Inhalten verknüpft werden kann, nämlich als Lernen durch Projekte, kritisches Denken, Debattieren und Diskutieren, Reflexion und Feedback. Andererseits wäre es eine falsche Alternative, Handlungsorientierung gegen frontale Instruktion auszuspielen und frontales Unterrichten als schlechten Unterricht abzutun. Die Verlaufsbeschreibungen in diesem Band zeigen, dass guter Unterricht Handlungsorientierung und direkte Instruktion integriert, denn Konstruktionsprozesse der Lernenden erfordern Instruktion durch die Lehrperson oder ein Medium8.

Leitziel der Demokratie- und Menschenrechtsbildung:
Partizipation in der Demokratie
Lernen Lehren Methoden Schule

Wissen und Verstehen

Fertigkeiten

Einstellungen und Werte

– über
– durch
– fürDemokratie und Menschenrechte
– handlungsorientiertes
– interaktives,
– kooperatives LernenIn Verbindung mit

– Instruktion
– Anleitung
– Training
– Demonstration

durch die Lehrperson

„Schule als Mikrogesellschaft“ und als Ort authentischer Lebenserfahrung

Handlungsorientiertes Lernen beansprucht mehr Zeit im Unterricht als frontale Beschulung und impliziert ein verändertes Rollenverständnis der Lehrperson. Grundsätzlich muss sie ihre Rede- und Zeitanteile im Unterricht knapphalten, um den Lernenden höhere Redeanteile zu ermöglichen und ihnen mehr Lernzeit zu geben. Gleichzeitig muss sie flexibler auf die Lernbedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler reagieren können. Handlungsorientiertes und interaktives Lernen setzt eine sorgfältige Planung und Vorbereitung voraus und ist in der Regel zeitaufwändiger als Frontalunterricht. Vermutlich aus diesem Grund dominiert der Frontalunterricht auch weiterhin, obwohl weithin anerkannt ist, dass interaktive Unterrichtsformen deutlich gestärkt werden müssen.

4. Welches Ziel verfolgt EDC/HRE?

Demokratische Systeme stützen sich auf aktive Demokratinnen und Demokraten. Die Teilhabe an der Demokratie ist erlernbar, und diesen – dreidimensionalen – Lernprozess9 zu ermöglichen ist die Aufgabe der Demokratie- und Menschenrechtsbildung. Die Komplexität des demokratischen Institutionensystems und der darin eingebetteten Verfahren der Entscheidungsfindung sowie der Inhalte der Entscheidungsprozesse erfordern zumindest ein Basisniveau der entsprechenden Kenntnisse und Einsichten. Am öffentlichen Diskurs, also am Wettbewerb der Ideen und organisierten Interessen teilzunehmen, setzt Kompetenzen voraus, z.B. der öffentlichen Rede sowie der Aushandlung von Problemlösungen. Ob junge Menschen den ungeschriebenen Sozialvertrag, der der politischen Kultur demokratischer Gemeinwesen zugrunde liegt, verstehen und respektieren, hängt maßgeblich von den Werten und Einstellungen ab, die sie erworben haben.

Das Leitziel der Demokratie- und Menschenrechtsbildung ist es, die junge Generation zu ermutigen und ertüchtigen, ihre aktive Bürgerrolle wahrzunehmen und auf diese Weise den Fortbestand der Demokratie zu sichern. Eine Demokratie kann nicht ohne einen durch eine Verfassung geschützten institutionellen Rahmen funktionieren. Dies allein reicht nicht aus: Die Wertschätzung der Demokratie und demokratische Überzeugungen müssen auch in der Gesellschaft verankert sein und von jeder Generation aufs Neue angeeignet werden. Demokratie ist ein prekäres Projekt, dessen Fortbestand nicht allein durch seine „festen“ Institutionen gesichert werden kann, sondern wesentlich vom „weichen“ Boden der politischen Kultur10. Ihr widmet sich die Demokratie- und Menschenrechtsbildung.

Das vorliegende Handbuch richtet sich an Lehrpersonen von Lernenden der Sekundarstufe I (Jahrgangsstufe 8 – 9). Ein Lernprozess hängt entscheidend von den Vorkenntnissen, Kompetenzen und der Lebenserfahrung ab, über welche die Lernenden verfügen. Die Einheiten im vorliegenden Band betonen deshalb die kulturelle Dimension der Demokratie, während das Handbuch für die Sekundarstufe II (EDC/HRE, Band IV) den Schwerpunkt zur politischen und institutionellen Dimension der Demokratie verschiebt11.

1. Ausführlicher dazu: EDC/HRE: „Eine kurze Geschichte des Ansatzes des Europarats“ in Band I dieser Reihe.
2. Da sich im Deutschen keine Abkürzung für Demokratie- und Menschenrechtsbildung durchgesetzt hat, verwenden wir – wie viele andere auch – die englische Abkürzung EDC/HRE, („Education for Democratic Citizenship and Human Rights”).
3. Vgl. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10 Dezember 1948 https://unric.org/de/allgemeine-erklaerung-menschenrechte/ (Abruf am 18.06.2020), Artikel 19, und die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950, Artikel 10. https://www.echr.coe.int/Pages/home.aspx?p=basictexts/convention (Abruf am 18.06.2020)
4. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert z.B. das Recht auf Meinungsfreiheit der gesamten Bevölkerung – Ausländer und Zuwanderer eingeschlossen („Jeder hat das Recht …“, Art. 5 Abs.1 GG), während die Versammlungsfreiheit an die Staatsbürgerschaft geknüpft ist („Alle Deutschen haben das Recht …“, Art. 8 Abs. 1 GG).
5. Vgl. z.B. das Handout „Eine demokratische Atmosphäre in der Klasse schaffen“ in Band I dieser Handbuchreihe.
6. Dieses Konzept orientiert sich an Dewey (Schule als „embryonale Gesellschaft“) und v. Hentig („Schule als polis“).
7. Wie im Sport gilt das Prinzip „Use it or lose it“. Kompetenzen verhalten sich wie Muskeln. Werden sie nicht regelmäßig beansprucht und trainiert, verkümmern sie.
8. Siehe dazu Klaus Kremb: Kompaktwissen Politikdidaktik. Kategorien – Konzeptionen – Kompetenzen. 3 Auflage, Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag 2014.
9. Vgl. dazu oben Abschnitt 3.
10. Siehe dazu Europarat (2016): Kompetenzen für eine demokratische Kultur. Gleichberechtigtes Zusammenleben in kulturell unterschiedlichen demokratischen Gesellschaftenhttps://www.coe.int/en/web/education/competences-for-democratic-culture
(Abruf am 05.08.2020).
11. Demokratie- und Menschenrechtsbildung kann in jeder Altersgruppe praktiziert werden, solange die Kompetenzen und Erfahrungen der Lernenden berücksichtigt werden. Das Handbuch „Kinderrechte erkunden“ (EDC/HRE Band V) zeigt die ganze Bandbreite didaktischer Ansätze vom Kindergarten bis zur 8./9. Klasse.