Basiskonzepte: Die Grundlage zur Konzipierung dieses Handbuchs

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Basiskonzepte in EDC/HRE: Instrumente für aktive Bürgerinnen und Bürger

Dieses Buch fokussiert auf eine Auswahl von Basiskonzepten, und es folgt damit einem klassischen di¬daktischen Ansatz der politischen Bildung und anderer Domänen. Die Basiskonzepte in EDC/HRE werden zwar aus der Theorie gewonnen, bilden aber keinen Theorieansatz ab. Ihre Auswahl erfolgte nach didaktischen und pragmatischen Gesichtspunkten.

Basiskonzepte ermöglichen den Lernenden kognitive Strukturen aufzubauen, indem sie neue Informationen in ein für sie bedeutsames Bezugssystem integrieren und leichter im Gedächtnis behalten können (konstruktivistisches Lernen). Ohne die Verknüpfung mit einem Basiskonzept müssten Lernende z.B. Zahlen und Fakten auswendig lernen. Die Lernenden können Informationen und Nachrichten aus den Medien selektiv verarbeiten und verknüpfen, indem sie diese mit einem Basiskonzept wie Demokratie, Macht, Konflikt oder Verantwortung verknüpfen. Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger in der Demokratie setzt deren Informiertheit voraus, die ohne ein Repertoire von Basiskonzepten nicht denkbar ist.

Basiskonzepte geben nicht nur dem kognitiven Lernen eine Struktur, sondern sie beinhalten Implikationen für Werte, Einstellungen und Kompetenzentwicklung. Diese Zusammenhänge werden in den Einheiten des vorliegenden Handbuchs herausgearbeitet.

Junge Menschen, die gelernt haben Fragen zu stellen, welche sich an den Basiskonzepten der Demokratie- und Menschenrechtsbildung orientieren, sind besser darauf vorbereitet, in der Zukunft mit neuen Informationen und Problemen umzugehen (lebenslanges Lernen). Konzeptorientiertes Lernen bereitet die Lernenden auf anspruchsvollere Aufgaben, z.B. auf universitärem Niveau vor, auf dem sie sich mit den Theorien befassen könnten, von denen diese Basiskonzepte stammen.

Wie arbeiten die Lernenden mit Basiskonzepten?

Denken und Lernen besteht zu einem wesentlichen Teil aus der Abstraktion vom Konkreten. Konzepte sind abstrakte und verallgemeinerte Ergebnisse der Analyse und des Denkens. Lernende können Konzepte auf dem Weg der Induktion oder der Deduktion erschließen. Der deduktive Ansatz führt vom Abstrakten zum Konkreten. Er setzt an einem Konzept an, das z.B. durch einen Vortrag oder einen Text eingeführt wird, und wendet dieses dann auf etwas Konkretes an wie z.B. eine Kontroverse oder eine Erfahrung. Der induktive Ansatz geht den umgekehrten Weg, d.h. er setzt am Konkreten an und gewinnt eine neue Erkenntnis durch die Anstrengung der Abstraktion. Die Leserinnen und Leser werden sehen, dass die Einheiten im vorliegenden Handbuch im Allgemeinen dem induktiven Ansatz folgen.

Die Basiskonzepte in diesem Buch werden deshalb in der Regel anhand von konkreten Beispielen entwickelt; oft sind dies Geschichten oder Fallbeispiele. Wenn die Lernenden darüber nachdenken, ob und wie ein Beispiel verallgemeinert werden kann, suchen sie nach einem Konzept, das diese Verallgemeinerung auf den Begriff bringt. Die Lehrperson entscheidet, ob und zu welchem Zeitpunkt sie das entsprechende Basiskonzept einführt (Konstruktion und Instruktion; exemplarisches Lernen).

Konzepte sind Instrumente des Verstehens, die Lernende auf neue Themen und Inhalte übertragen können (Transfer, Rekonkretisierung). Je öfter die Lernenden mit einem Konzept arbeiten, desto besser werden sie es verstehen, ebenso wie seine Vernetzung mit anderen Konzepten (Entwicklung kognitiver Strukturen). Die Lernenden sind nicht mehr darauf angewiesen, sich Fakten ohne Zusammenhang und Relevanz merken zu müssen; vielmehr können sie neue Informationen in ihr eigenes Bezugssystem integrieren und mit ihren Erfahrungen und Kenntnissen vernetzen (Verstehen statt Memorieren).

Wie kann dieses Handbuch an spezifische Anforderungen angepasst werden?

Die Einheiten im vorliegenden Handbuch beschreiben in aller Regel den ersten von zwei wichtigen Lernschritten, den Weg vom Konkreten zum Abstrakten, und sie liefern dazu die Instrumente und Impulse und überlassen es den Lehrpersonen und Lernenden, wie sie davon Gebrauch machen. Dabei geht es um den zweiten Schritt des Transfers bzw. der Rekonkretisierung. Dabei unterscheiden sich nicht nur die Bedürfnisse und Interessen der Lernenden, sondern auch jedes Land weist seine eigene politische Agenda, Medien und Materialien auf, eigenes Bildungssystem und eine spezifische Bildungstradition auf. Dieses Handbuch bietet weite Spielräume zur Anpassung an landesspezifische Anforderungen.

Die Einheiten in diesem Buch thematisieren keine politischen Probleme oder Entscheidungsprozesse, die kontext- oder zeitgebunden sind. Die Inhalte des Handbuchs schließen keine potenziellen Nutzer aus, und sie sind gegen rasche Obsoleszenz gefeit. Die Lücke, die das Handbuch lässt, ist für die Nutzer und Nutzerinnen Aufgabe und Freiraum zugleich. In den Einheiten finden sich entsprechende Hinweise und Vorschläge für Lehrpersonen bzw. die Lernenden, Material zu beschaffen, das die Einheiten mit aktuellen bzw. landesspezifischen Themen und Inhalten erweitert und an den konkreten Interessen und Lernbedürfnissen in der Lerngruppe ausrichtet.

Demokratie und Menschenrechte beruhen auf Werten und Prinzipien mit einem universalen Geltungsanspruch, dem EDC/HRE in allen Ländern verpflichtet ist. Andererseits weist die Demokratie in jedem Land ihre eigene Geschichte auf, und die politische Kultur in den Gesellschaften unterscheidet sich ebenso wie z.B. die Ausgestaltung der Verfassungen, das Schul- und Bildungssystem sowie die Lehr- und Lerntradition. Insofern muss jedes Land seine Lesart der Demokratie- und Menschenrechtsbildung entwickeln, das seinem Bildungssystem und den Lehrplänen entspricht.

Auf welche Basiskonzepte fokussiert dieses Handbuch?

Das Schaubild integriert die Basiskonzepte, die im vorliegenden Handbuch thematisiert werden, in einem Modell konzentrischer Kreise.

 

Key concepts and learning dimensions in EDC/HRE

Der Demokratiebegriff bildet den Kern der Demokratie- und Menschenrechtsbildung (EDC/HRE) und ist in jeder Einheit in Verbindung mit den jeweils thematisierten Basiskonzepten präsent. Die grundlegende Bedeutung des Basiskonzepts Demokratie wird durch seine Platzierung im Zentrum des Schaubilds hervorgehoben.

Die drei Basiskonzepte im mittleren Kreis bezeichnen drei Grundvoraussetzungen der Demokratie. Die Konzepte der Gleichberechtigung und Freiheit bezeichnen die zwei elementaren Prinzipien der Gerechtigkeit, die auch den Menschenrechten zu Grunde liegen. Sie bezeichnen zugleich ein Spannungsverhältnis, das demokratische und freie Gesellschaften aushalten und ausbalancieren müssen. Freiheit ermöglicht Wettbewerb unter Individuen (auch Lernenden) und Unternehmen, und daraus gehen Gewinner und Verlierer hervor. Das Prinzip der Gleichberechtigung fordert ein, die Schwachen zu schützen und ihre Chancen zu wahren.

Keine Demokratie hat bestand ohne eine gelingende Balance zwischen Freiheit und Gleichberechtigung. Der Schutz der Freiheits- und Gleichheitsrechte ist eine Aufgabe des Rechtsstaats, und der Ausgleich des Spannungsverhältnisses zwischen ihnen ist eine sich stets neu stellende politische Aufgabe. Das Konzept der Verantwortung, das dritte im inneren Kreis, nimmt die Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht.

Die Wahrnehmung von Freiheitsrechten geht mit Verantwortung einher, mit der Bereitschaft, die Folgen von Entscheidungen und Verhaltensweisen zu bedenken und nicht nur am formal rechtlich Erlaubten, sondern auch am ethisch Vertretbaren zu messen.

Die Basiskonzepte im äußeren Kreis gehen näher auf die Wahrnehmung der Freiheits- und Gleichheitsrechte ein. Medien in der Demokratie sind ohne Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit nicht denkbar. Das Konzept der Identität verweist auf das Recht des Einzelnen, seine Persönlichkeit frei zu entfalten. Die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen, Meinungs- und Gedankenfreiheit und das Recht seine Interessen zu vertreten in Konkurrenz mit den Interessen anderer bringt eine pluralistische Gesellschaft hervor, geprägt durch Vielfalt, aber auch durch soziale Ungleichheit. Konflikte zwischen den Mitgliedern einer pluralistischen Gesellschaft sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Demokratisch verfasste Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, diese Konflikte gewaltfrei auszutragen und zu lösen. Ungeschriebene, informell wirksame Regeln stellen Verfahrensformen zur Problem- und Konfliktlösung in der Zivilgesellschaft, demokratisch legitimierte Verfassungsnormen und Gesetze definieren Entscheidungskompetenzen und verbindliche Verfahrensmuster für politische Entscheidungsprozesse sowie die Rechtsprechung. Die Basiskonzepte Macht und Entscheidung fokussieren auf die Legitimation politischer Macht in der Demokratie.

Die sechs Blockpfeile verweisen auf die Lernprozesse in EDC/HRE, indem sie die Basiskonzepte mit sechs ausgewählten Problemfeldern verknüpfen, die einen weiteren Kreis um Modell legen. In diesem Handbuch demonstrieren die neun Einheiten demonstrieren das Prinzip des exemplarischen, induktiven Lernens, das den Schülerinnen und Schüler ermöglicht, an konkreten Inhalten aus diesen – oder anderen – Problemfeldern ausgewählt werden, sich die Basiskonzepte zu erschließen.

Der Blockpfeil unter den konzentrischen Kreisen markiert den Fokus auf das Leitziel von EDC/HRE: die Befähigung und Ermutigung der Lernenden zur Partizipation.

Basiskonzepte und Dimensionen des Lernens in EDC/HRE

Die Basiskonzepte bestimmen den inhaltlichen Schwerpunkt der neun Einheiten in diesem Handbuch, und sie hängen auch mit den drei Dimensionen des Lehrens und Lernens in EDC/HRE zusammen, die in Abschnitt 3 dieser Einleitung dargestellt wurden.

Die folgende Übersicht zeigt, was die einzelnen Einheiten des Handbuchs zum Lehren und Lernen „über“, „durch“ und „für“ Demokratie und Menschenrechte leisten. Die Übersicht folgt dabei der inhaltlichen Gruppierung der Einheiten im Handbuch und es wird deutlich, dass die Autoren der Einheiten die Basiskonzepte in mit weiteren Konzepten verknüpft haben. Die vorgeschlagene Abfolge der Einheiten ermöglicht die Konzipierung eines Kurses zu EDC/HRE sowie eine Auswahl der Einheiten nach inhaltlichen oder didaktischen Gesichtspunkten:

Teil 1 – „Individuum und Gesellschaft“ – umfasst vier Einheiten, die einen Bogen vom Individuum zur Gesellschaft spannen. Thematisiert werden Stereotype und Vorurteile, Gleichberechtigung, Pluralismus und Ungleichheit sowie Konflikte. Teil 2 – „Verantwortung übernehmen“ (Einheiten 5 und 6) befasst sich mit der Frage, wer in einer Gemeinschaft Verantwortung übernehmen soll. Teil 3 – „Partizipation“ ist die Einheit 7 zugeordnet, die den Lernenden die Produktion einer Schulzeitung als Möglichkeit der Teilhabe zugänglich macht. Teil 4 – „Politik“ – thematisiert in zwei Einheiten die Bedeutung von Regeln und Recht sowie Entscheidungsprozesse auf der Makro- bzw. Mikro-Ebene (Politik, Schule).

Nr. der Einheit Thema Basiskonzept in der Demokratie- und Menschenrechtsbildung Lehren und Lernen über – durch – für Demokratie und Menschenrechte
„über“               „durch“ „für“
Teil 1: Individuum und Gesellschaft
1 Identität: Stereotype und Vorurteile. Was bedeutet Identität? Wie nehme ich andere wahr, wie nehmen sie mich wahr? Identität
Individuum und Gemeinschaft
Gegenseitige Wahrnehmung
Stereotype
Vorurteile
Individuelle Identität und Gruppenidentität
Die Perspektive wechseln Stereotypen und Vorurteile erkennen und hinterfragen
2 Gleichberechtigung. Bist du gleicher als ich?

Gleichberechtigung

Diskriminierung

Soziale Gerechtigkeit

Diskriminierung in der Gesellschaft

Gleichberechtigung als fundamentales Menschenrecht

Unterschiede und Ähnlichkeiten schätzen lernen

Die Perspektive der Opfer von Diskriminierung einnehmen

Situationen von Diskriminierung in Frage stellen

Moralische Urteilsbildung

3 Pluralismus und Vielfalt. Wie können Menschen friedlich zusammenleben?

Pluralismus

Vielfalt

Demokratie

Pluralismus und seine Grenzen

Gleichberechtigung und Bildung

Schutz von verwundbaren Personen oder Gruppen durch Menschenrechtsabkommen

Toleranz

Fokus auf Probleme, nicht auf Personen

Demokratische Diskussion

Debatten zur Problemlösung

Verhandeln

4 Konflikt. Was tun, wenn wir nicht gleicher Meinung sind?

Konflikt

Frieden

Win-win-Situation

Wünsche, Bedürfnisse und Kompromisse

Gewaltlosigkeit Sechs-Stufen-Modell der Konfliktbewältigung
Teil 2: Verantwortung übernehmen
5 Recht und Freiheit. Welches Rechte haben wir und wie werden sie geschützt?

Rechte

Freiheitsrechte

Verantwortung

Grundbedürfnisse

Wünsche

Menschenwürde

Verantwortung und Schutz der Menschenrechte

Bewusstsein der persönlichen Verantwortung Menschenrechtsverletzungen erkennen und sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen
6 Verantwortung. Welche Art von Verantwortung haben wir? Verantwortung

Gesetzliche, soziale, moralische Verantwortung

Die Rolle von NGOs in der Zivilgesellschaft

Moralische Urteilsbildung

Dilemmata lösen (Moralische Pflichten im Konflikt)

Persönlich Verantwortung übernehmen
Teil 3: Partizipation
7

Medien und Öffentlichkeit: Eine Klassenzeitung erstellen

Medien verstehen durch Medienproduktion

Medien

Demokratie

Öffentliche Meinung

Typen von Printmedien

Funktion der Nachrichtenrubriken

Informations- und Meinungsfreiheit

Planung

Gemeinsame Entscheidungsfindung

Ein Projekt in eigener Verantwortung realisieren
Teil 4: Politik
8

Regeln und Recht.

Welche Gesetze braucht eine Gesellschaft?

Gesetze

Regeln

Rechtsstaatlichkeit

Zweck des Gesetzes

Zivilrecht, Strafrecht
Jugendrecht

Kriterien für ein gutes Gesetz

Faire Gesetze erkennen Das Gesetz respektieren
9

Macht und Entscheidung.

Wie sollte die Gesellschaft regiert werden?

Macht

Entscheidung

Demokratie

Politik

Herrschaftsformen (Demokratie, Monarchie,

Diktatur, Theokratie, Anarchie)

Verantwortlichkeit einer Regierung

Gedanken- und Meinungsfreiheit wahrnehmen

Kritisches Denken

Debattieren

 

Die inhaltliche Gruppierung der Einheiten unterstützt eine flexible Unterrichtsplanung. Fragen, die von den Lernenden in einer bestimmten Einheit gestellt werden, können auf Inhalte oder Perspektiven in anderen Einheiten verweisen. Die Anordnung der Einheiten erleichtert es der Lehrperson, auf die Interessen und Lernbedürfnisse in der Lerngruppe reagieren zu können.

Wie oben beschrieben, folgen die Einheiten im vorliegenden Handbuch einem induktiven Ansatz. Die Wertedimension in EDC/HRE – „Lehren und Lernen durch Demokratie und Menschenrechte“ – wird in Teil 2, „Verantwortung übernehmen“ direkt thematisiert. Die partizipative Dimension in EDC/HRE (Lehren und Lernen „für“) wird in Einheit 5 und 7 betont.

Die Darstellung der Einheiten enthalten einführende Texte zu den Basiskonzepten und den Konzepten, mit denen sie in der Einheit verknüpft werden.

Das Puzzle der Basiskonzepte – ein Modell für konstruktivistisches Lernen

Das Puzzle der Basiskonzepte führt wie ein Leitmotiv durch das ganze Buch. Es erscheint auf der Titelseite jeder Einheit auf, und jeweils das Puzzleteil wird hervorgehoben, welches das Basiskonzept dieser Einheit symbolisiert. Hier sind die neun Teilstücke zum vollständigen Puzzle zusammengesetzt. Dieses Bild kann auf verschiedene Arten gelesen werden.

 

Zunächst einmal zeigt der Text in jedem Bild, welches Konzept der Demokratie- und Menschenrechtsbildung der Künstler, Peti Wiskemann, darstellen wollte. Dann wird durch die Verknüpfung aller neun Bilder in einem Puzzle gezeigt, dass die neun Konzepte ein zusammenhängendes, bedeutungsvolles Ganzes bilden.

Das Puzzle kann zur Annahme verführen, dass die Basiskonzepte in diesem Handbuch eine abgeschlossene Einheit bilden, die keiner Ergänzung bedürften oder keine Auswahl zuließen. Daraus folgte dann das Missverständnis, es habe keine didaktisch begründete Auswahl der Basiskonzepte stattgefunden.

Selbstverständlich bilden die neun Basiskonzepte kein geschlossenes Theoriegebäude. Wir haben sie vielmehr nach den Kriterien ihrer Relevanz oder ihres Lernpotenzials ausgewählt. So hätte es auch reizvolle Alternativen gegeben, z.B. Geld, Macht oder Ideologie. Die Nutzerinnen mögen daher das Angebot dieses Handbuchs nicht als Theorie, sondern als Werkzeugkasten verstehen, den sie vervollständigen bzw. anpassen können.

Aus konstruktivistischer Perspektive kann das Puzzle auch als Symbol für die Art verstanden werden, wie Lernende Sinn konstituieren und schaffen. Lernende – ebenso wie Lehrpersonen – werden versuchen, die Konzepte der Demokratie- und Menschenrechtsbildung miteinander zu verknüpfen. Sie werden in ihrer Vorstellung ihr eigenes Puzzle kreieren, mit verschiedenen Verknüpfungen und einer je individuellen Anordnung der Elemente, die sie auch mit ihren eigenen Bildern versehen können. Vielleicht werden sie Lücken oder fehlende Verbindungen entdecken und Fragen stellen, die den Horizont der wenigen Konzepte in diesem Buch überschreiten. Ihre Denk- und Lernprozessen werden sie dann zu Ergebnissen und individuellen Puzzles (kognitiven Strukturen) gelangen. All dies wäre im Sinne von EDC/HRE. Das Puzzle soll der Veranschaulichung und als Denkanstoß dienen, nicht als Darstellung eines Lehrgebäudes. Wer eigene, originelle Wege beschreitet, wird auch Fehler machen. Konstruktivistisches Lernen bedarf daher der Dekonstruktion als Korrektiv. Kooperatives Lernen ermöglicht die wechselseitige konstruktive Kritik durch Mitschülerinnen und -schüler; falls nötig, sollte die Lehrperson den Anstoß zur Dekonstruktion geben.

Bilder unterstützen die aktiven Leser und Leserinnen (Metareflexion)

Das vorliegende Kapitel hat sich mit abstrakten Ideen, den Konzepten, befasst. Der Autor hat die schwierige Aufgabe, seine Botschaft verständlich darzustellen und der Leser die schwierige Aufgabe, sie zu verstehen. Diese Erfahrung, die Autor und Leserin teilen, ist der Interaktion zwischen Lehrpersonen und Lernende nicht unähnlich. Es lohnt sich deshalb, an dieser Stelle über die Kommunikation zwischen Autor und Leser/in zu reflektieren. Wir wählen auch einen induktiven Zugang, indem wir an einer konkreten, uns allen vertrauten Erfahrung ansetzen, um eine Einsicht zu gewinnen, die auf andere Bereiche, insb. Lehren und Lernen, übertragbar ist.

Untersuchungen haben gezeigt, dass zahlreiche Leserinnen und Leser, die zum ersten Mal ein Buch aufschlagen, zuerst nach Bildern und Schaubildern suchen, ehe sie sich dem Text zuwenden. Bilder appellieren an unsere Fantasie, und mitunter sind sie auch ästhetisch reizvoll. Die Aussage von Bildern oder Schaubildern scheint sich unmittelbar zu erschließen. Durch Bilder lassen sich Informationen verdichten. In diesen Eigenschaften liegt ihre Stärke. Ihre Schwäche besteht darin, dass ihre Aussagen nicht sprachlich übertragen werden, so dass Bilder nur oberflächlich rezipiert werden oder fehlerhaft gedeutet werden.

 

Autor, Leserin und Botschaft stehen in einer Dreiecksbeziehung, die der Struktur des didaktischen Dreiecks ähnelt. Für beide Beziehungsmuster ist kennzeichnend, dass keiner der Akteure die Beziehung zwischen dem anderen Akteur und der Botschaft kontrollieren kann. Das bedeutet, dass die Autorin eines Textes oder Bildes nichts unternehmen kann, wenn der Leser oder die Betrachterin ihren Text oder ihr Bild missverstehen.

Ähnliches gilt für das didaktische Dreieck. Keine Lehrperson kann die Beziehung zwischen Lernenden und Gegenstand – den Lernprozess – kontrollieren, ebenso wenig wie den langfristigen Lernertrag, der aus den Konstruktionsleistungen der Lernenden hervorgeht. Beiden Beziehungsformen ist auch gemeinsam, dass Lese- und Lernprozesse zugleich Denkprozesse sind.

Der entscheidende Unterschied zwischen den Beziehungsmustern besteht darin, dass Autoren und ihrer Rezipienten sich zumeist persönlich nie begegnen, während die Lehrperson und die Lernenden intensiv miteinander interagieren. Die Lernenden können Fragen stellen, die Lehrperson kann im Falle von Fehldeutungen und Missverständnissen reagieren. Die Lernenden können mit Hilfe der Lehrperson Kompetenzen erwerben, die sie befähigen Texte und Bilder zu lesen und zu deuten. Auf einer höheren Kompetenzstufe können sie ihre Konstruktionsleistungen kritisch überprüfen. In der sog. Informationsgesellschaft ist die Bedeutung dieser Kompetenzen kaum zu unterschätzen.

Das Puzzle der Basiskonzepte lässt sich aus dieser Perspektive in verschiedener Weise einsetzen, um das Bild in einen Text zu transformieren. Die Lehrperson kann ein Puzzlestück verwenden, um ein Konzept zu veranschaulichen, das sie im Vortrag einführt. Sie kann es als Impuls verwenden, um die Lernenden im Lehrgespräch über ein Basiskonzept anzuregen. Die Lernenden können die Verknüpfungen im gesamten Puzzle erforschen und ihre Deutungen einander erläutern. Sie werden dabei die Erfahrung machen, dass Meinungs- und Gedankenfreiheit nicht nur die Voraussetzung demokratischer Entscheidungsfindung, sondern auch eigenständiger Lese- und Lernprozesse sind.

6. Die EDC/HRE-Handbücher – ein Beispiel europäischer Ko¬ope¬ration

Die Reihe der sechs Handbücher beruht auf einem Ansatz der Demokratie- und Menschenrechtsbildung, der in zahlreichen Ländern Europas geteilt wird. Die Idee und die erste Version dieses Handbuchs wurden in Bosnien-Herzegowina entwickelt; bei der Überarbeitung und Diskussion wirkten zahlreiche Bildungsexperten und Lehrpersonen aus verschiedenen Ländern mit. Für die vorliegende deutsche Ausgabe (2021) wurde der Text grundlegend redigiert und überarbeitet.

Die Autorinnen und Herausgeber dieses Buches vertreten Ansätze und Traditionen des Lehrens und Lernens in Großbritannien, Belgien, der Schweiz und Deutschland. Bei allen erkennbaren Unterschieden sind sie sich darin einig, dass handlungsorientierte Methoden und problemorientierte Themen eigenverantwortliche Lernprozesse unterstützen. Diese methodisch-didaktische Grundorientierung ist für EDC/HRE als ein „europäischer Ansatz“ konstitutiv, den auch die Autoren und Autorinnen der gesamten Handbuchreihe vertreten.

Bei der Vorbereitung der vorliegenden überarbeiteten Fassung unterstützten uns Ólöf Ólafsdóttir und Sarah Keating-Chetwynd vom Europarat sowie Sabrina Marruncheddu, Wiltrud Weidinger und Basil Schader vom Zentrum International Projects in Education (IPE) der Pädagogischen Hochschule Zürich. Die Illustrationen von Peti Wiskemann ergänzen die Texte um eine bildliche Dimension, die vieles erfasst, was nicht in Worten ausgedrückt werden kann. Wir möchten uns bei den Autoren und Autorinnen, dem Illustrator, allen kritischen Leserinnen und Lesern und dem Lektorat für ihre Beiträge und die Unterstützung bedanken. Einen besonderen Dank sprechen wir Emir Adzovic, dem Europaratskoordinator in Sarajevo, aus, der uns während unserer Projekte zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung betreut hat. Ohne seinen großen Einsatz schon zu Beginn unserer Arbeit wäre dieses Buch nicht geschrieben worden. Danken möchten wir auch Heather Courant für ihre Geduld bei der Vorbereitung unserer Reisen der Organisation unserer Tagungen. Allen unseren Partnerinnen und Partnern in diesem wahrlich europäischen Projekt sind wir sehr dankbar.

Strasbourg/Zürich, August 2007/November 2021
Rolf Gollob (Zürich, Schweiz)
Peter Krapf (Ulm, Deutschland)