Information für Lehrpersonen zur Sequenz 8.1: Integration, nicht Kriminalisierung

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Thomas Hammarberg, Kommissar für Menschenrechte, Europarat

(…) In den meisten europäischen Ländern sind Jugendliche in der allgemeinen Kriminalitätsstatistik nicht überproportional vertreten. Auch die Rate der Jugendkriminalität auf dem europäischen Kontinent bleibt über die Jahre praktisch konstant.

Das bedeutet jedoch nicht, dass das Problem unbedeutend wäre. In verschiedenen Ländern wird ein besorgniserregender Trend sichtbar, dass Verbrechen, die von jungen Straftäter/innen begangen werden, gewalttätiger oder in anderer Hinsicht gravierender werden. Das ist per se ein Warnsignal. (…)

Momentan zeichnen sich in Europa zwei verschiedene Trends ab. Einer besteht darin, das Alter der Strafmündigkeit herabzusetzen und auch gegen Kinder ab einem früheren Alter Freiheitsentzug oder Arrest zu verhängen. Der andere Trend – im Geiste der UN-Kinderrechtskonvention – geht dahin, die Kriminalisierung junger Menschen zu vermeiden und familienorientierte oder andere soziale Alternativen zur Inhaftierung zu suchen.

Ich plädiere im Folgenden für den zweiten Ansatz und berufe mich nicht nur auf die UN-Kinderrechts-Konvention, sondern auch auf das Europäische Netzwerk der Ombudsleute for Kinder54. 2003 betonten nicht weniger als 21 Ombudsleute in einer Stellungnahme, dass Kinder, die in Konflikt mit dem Gesetz gerieten, vor allem Kinder seien, deren Menschenrechte zu respektieren seien.

Das Netzwerk schlug vor, die Altersgrenze der Strafmündigkeit nicht zu senken, sondern vielmehr schrittweise auf 18 Jahre anzuheben. Zudem sollten innovative Ansätze im Umgang mit jugendlichen Straftätern unter 18 Jahren, sich auf Bildung, Reintegration und Rehabilitation konzentrieren.

Die Kinderrechtskonvention, die von allen europäischen Staaten ratifiziert wurde, verlangt von den Regierungen, ein Mindestalter festzulegen, ab dem Kinder als fähig angesehen werden, das Strafrecht zu verletzen. Die Kinderrechtskonvention lässt offen, bei welchem Alter diese Grenze gezogen werden soll. Das Komitee, das die Umsetzung der Konvention überwacht, hat jedoch seine Besorgnis über die niedrige Altersgrenze der Strafmündigkeit zum Ausdruck gebracht, die in verschiedenen Ländern gilt. In den meisten europäischen Staaten gelten Kinder ab 12 bis 15 oder 16 Jahren als strafmündig, in anderen Ländern wird ein Kind jedoch ab sieben, acht oder zehn Jahren für strafmündig erklärt.

Zwar lautet die Botschaft der Kinderrechtskonvention, dass die Kriminalisierung von Kindern vermieden werden sollte, bedeutet das nicht, dass junge Straftäter behandelt werden sollten, als seien sie für ihre Taten nicht verantwortlich. Im Gegenteil, es ist sehr wichtig, dass sie für ihre Taten zur Verantwortung gezogen und daran beteiligt werden, den Schaden, den sie angerichtet haben, zu beheben.

Es stellt sich in solchen Fällen die Frage, welches Verfahren an die Stelle des regulären Strafprozesses treten soll. Das alternative Verfahren sollte den Schaden, den die Opfer erlitten haben, anerkennen und jugendlichen Straftätern klar machen, dass ihre Taten nicht hinnehmbar sind. Ein derartiges separates System für Jugendliche sollte die Anerkennung der Schuld durch die Täter sowie Sanktionen, die der Rehabilitation dienen, zum Ziel haben.

Der Sanktionierungsprozess unterscheidet sich deutlich von einem gewöhnlichen Strafverfahren. Das Jugendstrafrecht kennt kein Vergeltungsprinzip. Das Ziel ist vielmehr, dass die jugendlichen Straftäter Verantwortung für ihre Taten übernehmen und ihre Reintegration in die Gesellschaft unterstützt wird. Der junge Straftäter soll aus seiner Tat lernen und sein Fehlverhalten niemals wiederholen.

In der Realität ist dieses Ziel nicht einfach zu erreichen. Erforderlich sind innovative und wirksame Sanktionsmaßnahmen der Gemeinschaft. Grundsätzlich sollten die Eltern oder der gesetzliche Vormund einbezogen werden, es sei denn, ein solcher Schritt erweist sich als kontraproduktiv für die Rehabilitation des Kindes. Bei jeder Ausgestaltung dieses Verfahrens sollte das Kind stets den Anschuldigungen widersprechen und sogar Berufung einlegen können.

Ein interessantes Schlichtungsverfahren wurde in Slowenien eingeführt. Im Falle der Beschuldigung eines Jugendlichen kann ein Mediator hinzugezogen werden, falls die Anklage, das Opfer und der bzw. die Beschuldigte zustimmen. Der Mediator versucht dann, eine Schlichtung zu vermitteln, die Opfer und Täter zufrieden stellt und ein Gerichtsverfahren abwenden kann.

Ein weiterer Aspekt muss betont werden: die Bedeutung einer prompten Reaktion auf die Tat. Verzögerte Verfahren sind heute ein Problem in mehreren europäischen Staaten, und dies gilt um so mehr im Falle junger Straftäter, deren Vergehen als Ruf nach sofortiger Hilfe gedeutet werden sollten. (…)

Thomas Hammarberg, Direktor der Kommission des Europarats für Menschenrechte: Auszug aus: Die Menschenrechtsdimension des Jugendrechts. Vortrag vor der Konferenz der Generalstaatsanwälte in Moskau, 5. – 6. Juli 2006. Die englischsprachige Originalfassung ist zugänglich unter: https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016806da8d8 (Abruf am 24.08.2020).

Übersetzung aus dem Englischen: S. Marruncheddu; ediert von Peter Krapf

54. European Network of Ombudspersons for Children (ENOC). http://enoc.eu/ (Abruf am 28.08.2020). Zum Zeitpunkt der Recherche waren Deutschland, Österreich und die Schweiz nicht als Mitgliedsstaaten von ENOC verzeichnet (P.K.).