Kapitel 8 – Mit Konflikten umgehen

Living Democracy » Textbooks » Demokratie lehren » Kapitel 8 – Mit Konflikten umgehen

V6_P79&99

Einführung

Das Bild zeigt junge Männer im Streit. Sie sitzen sich an einem Tisch gegenüber. Der eine schwenkt eine Fahne, der andere ballt die Faust und zeigt seine Zähne. Die Haare der Kontrahenten sind aufgerichtet, wie wir es von wilden Tieren kennen. Das alles lässt erwarten, dass der Konflikt eskalieren wird: Die beiden würden sich demnächst aufstehen und ihren Konflikt mit physischer Gewalt austragen. Doch in dem Bild gibt es noch ein weiteres Element: Die Kontrahenten schütteln sich nämlich die Hände, als Zeichen ihrer Bereitschaft, sich zu einigen und einen Kompromiss zu suchen. Sie reden lediglich miteinander – brüllen sich vielleicht sogar an –, doch es gibt keine Gewalt.

Zugleich zeigt das Bild was im wirklichen Leben geschieht: Wenn wir unsere für Interessen, Meinungen und Werte eintreten, werden wir manchmal in einen Konflikt verwickelt. Um solche Konflikte beizulegen, müssen wir fähig und bereit sein, eine Einigung zu finden und Kompromisse zu schließen. Erst streiten und die Maximalforderungen markieren, um anschließend aufeinander zuzugehen, um sich zu einigen und einen Kompromiss zu finden: Das sind die Schritte eines Prozesses der Konfliktlösung – etwa so wie das Ein- und Ausatmen.

Auch das zackenförmige Muster am Boden lässt sich deuten. Wir bilden eine Gemeinschaft, die sich den einen Planeten teilt – wir haben keinen anderen – oder z.B. die eine Familie oder Schule. Wir sind aufeinander angewiesen und hängen voneinander ab, und deswegen müssen wir uns zur Austragung und Beilegung unserer Konflikte auf bestimmte Prinzipien und Verfahrensregeln einigen.

Das Bild lässt sich auch in einem weiteren Sinne deuten. Die beiden Kontrahenten schenken sich nichts in ihrem Streit, und doch reichen sie sich die Hand. Zugespitzt formuliert: Frieden schließt man nicht mit seinen Freunden, sondern mit seinen Feinden. Das bedeutet, dass Konflikte nicht derart eskalieren dürfen, dass eine gewaltfreie Lösung unmöglich wird. Claus Offe (2003) hat drei Typen gesellschaftlicher Konflikten beschrieben, die sich darin unterscheiden, wie groß die Chancen sind, sie gewaltfrei und in zivilisierter Form zu lösen. Die drei Konflikttypen unterscheiden sich durch ihre Ursachen – sie können durch gegensätzliche Interessen, Ideologien oder Identitäten (die „drei I’s“) hervorgerufen werden.

  • Interessenkonflikte drehen sich um die Kontrolle und Verteilung knapper Ressourcen. Sie lassen sich versachlichen und durch einen Kompromiss lösen.
  • Ideologische Konflikte, d.h. Konflikte zwischen Gruppen, die für verschiedene Werte oder Glaubensrichtungen stehen, sind sehr viel schwieriger durch einen Kompromiss lösbar.
  • Konflikte, in denen es um die Identität von Menschen oder Gruppen geht – z.B. Hautfarbe, ethnische Herkunft – sind keiner Kompromisslösung zugänglich. Einzelne Gruppen in der Gesellschaft beanspruchen Vorrechte, die sie den „Anderen“ nicht zugestehen. Derartige Konflikte drohen gewalttätig zu eskalieren und in Vertreibung oder schlimmstenfalls in einen Bürgerkrieg umzuschlagen.

Interessenkonflikte an sich sind nichts Negatives. Die Freiheitsrechte ermöglichen die Entfaltung pluralistischer Gesellschaften, in denen Menschen ihre konkurrierenden Interessen artikulieren. Dadurch nimmt die Wahrscheinlichkeit von Interessen- und Verteilungskonflikten zu. Die konstruktive Lösung von Konflikten stiftet Frieden in der Gesellschaft, während der Versuch, Konflikte mit Gewalt zu unterdrücken oder zum Nachteil einer Seite aus der Welt zu schaffen, neue Konflikte schürt und den Zerfall der Gemeinschaft herbeiführen kann.

Ideologische und identitätsbezogene Konflikte sind eine Herausforderung für die Zivilgesellschaft. Wir müssen versuchen sie zu lösen durch eine Kultur gegenseitiger Anerkennung und die Bereitschaft, uns mit den Erfahrungen der Menschen auseinander zu setzen, die sich an solchen Konflikten beteiligen. Wir müssen nach Möglichkeiten der Koexistenz suchen. Konflikte lassen sich nur mit Lösungen befrieden, die von allen als gerecht empfunden werden. Mit diesem Thema befasst sich der Beitrag 8.4.

Konfliktlösung ist eine Kompetenz, die teilweise erlernt und gelehrt werden kann. Darauf fokussieren einige Lernszenarios in diesem Kapitel. Sie bieten den Lernenden Instrumente und Verfahrensformen an, die der Lösung von Konflikten dienen. Zum zweiten fokussiert dieses Kapitel auf die kulturellen Voraussetzungen einer fairen Konfliktlösung. Damit geht um die Werte, die unser Verhalten in Konfliktsituationen bestimmen. Im Idealfall sollte ein Konflikt durch eine sog. Win-win-Situation gelöst werden, die keine Verlierer zurücklässt. Falls das nicht möglich ist, sollte ein Kompromiss gesucht werden, der die Verteilung der Vor- und Nachteile sowie der Gewinne und Einbußen ausbalanciert. Aus einer erweiterten Perspektive sind nicht nur die Belange der unmittelbar Beteiligten zu berücksichtigen, sondern der Gesellschaft und der Umwelt als Ganzes.

Literatur

Claus Offe (2003): „Homogeneity“ and Constitutional Democracy. Coping with Identity Conflicts through Group Rights. In: Ders.: Herausforderungen der Demokratie. Zur Integrations- und Leis-tungsfähigkeit politischer Institutionen. Frankfurt/New York, S. 151 – 181.